hntrlnd » Russland http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Moskau http://www.hntrlnd.de/?p=1061 http://www.hntrlnd.de/?p=1061#comments Fri, 27 Jun 2014 09:32:35 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1061 Moskaus Nächte leuchten

Moskaus Nächte leuchten

Vor 26 Jahren ging ich im Stadtteil Jugo-Sapadnaja zur Schule. Die DDR hatte eine Vorzeige-Botschaftsschule gebaut, mit Aula und Sporthalle, alle Kinder von in Moskau lebenden DDR-Bürgern gingen hier hin. Jeden Tag fuhr uns ein Bus aus dem Wohngebiet der Armee-Studenten in Birjulewo hier hin, die Fahrt führte damals eine dreiviertel Stunde durch die breiten Moskauer Straßen, welche leer waren, im Vergleich zum heutigen Verkehrsaufkommen. Ich steige also in die Metro der roten Linie und fahre sie bis zur Endstation im Südwesten. Die Stadt hat sich auch hier komplett verändert. Zwischen den Hochhäusern der Achtziger stehen inzwischen riesige, doppelt so hohe Klötzer.
Vor 25 Jahren standen hier kaum Häuser Wohngebiet der deutsche Botschaft neu verputzt Die Botschaftsschule neu verputzt Zäune und Wachhäuschen

Während man damals zum Hügel sehen konnte und bereits das Botschaftsgelände sah, steht heute ein weiterer Stadtteil dazwischen. Damals waren die fünf Wohnhäuser der Mitarbeiter von Botschaft und Handelsvertretung frei zugänglich. Heute ist das Botschaftsgelände mit einem Zaun abgesperrt. Da ich an einem Sonntag vorbeigehe, werde ich an den Wärterhäuschen abgewiesen, mein deutscher Pass bringt mich nicht weiter. Mir wird eine Telefonnummer gegeben, unter welcher ich einen Passageschein beantragen kann, aber nur Wochentags. Alle Häuser sind frisch und nach deutschem Stil verputzt. An dem ebenfalls durch den Putz kaum wiederzuerkennenden Schulgebäude prangt neben langweiligem Logo die Zeile „Deutsche Schule in Moskau“. Das vereinte Deutschland hat also das DDR-Gelände übernommen und sich mit Zäunen und Wärterhäuschen ein abgekapseltes Ghetto gebaut, welches einen Austausch mit dem Moskauer Stadtleben erst außerhalb des Zauns ermöglicht. Hier kann ich weder Fotos machen, noch mich mit Botschaftsmitarbeitern und Familien unterhalten.

Das Wohnheim in Birjulewo

Das Wohnheim in Birjulewo

Ich rufe also am Montag an. Mir wird mitgeteilt, dass die zuständige Mitarbeiterin in einer Konferenz ist, ich solle in einer halben Stunde nochmal anrufen. Nach dieser werden meine Anrufe mit einem Dauerklingeln beantwortet, niemand nimmt ab. Ich versuche über eine Stunde lang jemanden an den Hörer zu bekommen, ohne Erfolg. Über den Tag versuche ich es noch einige Male, keine Rückmeldung. Also bleiben nur ein paar Fotos von Zäunen. Ich hätte gern Jemanden zu den Entwicklungen in den letzten 26 Jahren befragt, aber dieser Moskau-Aufenthalt ist zu kurz dafür und die Kommunikationsbereitschaft eindeutig zu schlecht.
Da, wo die Geschichte von "Der Meister und Margharita" beginnt perfekter Hintergrund Pjotr I und krasnui oktjabr Springbrunnen und Holzterrasse und entspannen

Stattdessen lassen wir uns vom neuen Moskau beeindrucken. Wir machen mit Tatjana, die wir in Kirgistan kennengelernt haben, einen Abendspaziergang. Die Stadt stampft sich immer wieder und ständig neu aus dem Boden. Sie schraubt weitere Metrolinien drunter und sie wächst weiter in die Höhe. Der Eindruck, den die explosionsartige Entwicklung macht, ist überwältigend. Dabei sind die Moskwitschs unhöflich und aggressiv, wie sie es schon immer waren. Beim Ticketkauf in der Metro sollte man das Genuschel nicht missverstehen, bei Nachfrage wird man angeschrien. Es scheint unter Verkäuferinnen ein Wettbewerb zu bestehen, in welchem die gewinnt, die möglichst teilnahmslos und mit abwesendem, schon wieder aufs Smartphone starrendem Blick das Wechselgeld in den Verkaufsschlitz wirft. Beim scheinbar abgenötigten Satz nach dem Einkauf im Supermarkt „beehren Sie uns bald wieder“ scheint es auch darum zu gehen, einen möglichst ironisierenden Tonfall zu finden.

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Die „Krasnui Oktjabr“-Schokoladenfabrik hat die Produktion im Stadtzentrum eingestellt. Die Fabrikhallen sind ein perfekt und mit viel Geld saniertes Kunst- und Kulturzentrum geworden. Nach den Luxuskarossen zu urteilen, geht es inzwischen weniger um Kunst, sondern um exquisite Lofts. Am wichtigsten ist das Geld. Das sollte man haben und zwar ausreichend, um in dieser Stadt blind einen Kafee zu kaufen. Der könnte nämlich Scheisse schmecken und fünf Euro kosten. All das ändert nichts an der so nicht erwarteten Freiheit und Ungezwungenheit des Moskauer Nachtlebens. Im Zentrum sind moderne und schöne Parks entstanden, die Leute tummeln sich hier, fahren Rad, Skateboard, Inlines, machen Selfies, starren auf Smarphones und Tablets, surfen auch ohne Telefonkarte im Netz, denn es gibt in fast allen Parks, genauso wie in der Metro freies W-Lan. Alles und Jeder ist technisiert.
Arbat aka. Touriabzocke Das neue Moskau Hilfe für den Donbass Lomonossow Stalinbau - eine der sieben Schwestern

An Holzterrassen, auf denen man rumliegen kann, sind unter den Stufen frei zugängliche Steckdosen angebaut. Davor ein Springbrunnen. Er lässt die Wassersäulen tanzen. Nachts kommen noch wechselnde Farben dazu. Moskau ist wohl nicht mehr nur die teuerste, sondern auch die reichste Stadt der Welt. Vielleicht hat sie gerade den Moment der Aufbruchsstimmung, in welchem das Kreative und Urbane noch kurz atmen darf, bevor es endgültig vom Reichtum eingenommen und zerschlagen wird. Vielleicht kann sie sich aber auch ihre kostenlosen Wohlfühlnischen erhalten. Die Infrastruktur scheint perfekt. Die Steuern sind geringer. Das Leben hier ist irre teuer und der Durchschnittslohn ist unter aller Sau. Die Armut versteckt sich in den Schlafstädten am Rand der Stadt. Aber auch diese sehen weitaus sauberer und wohnlicher aus, als ich sie in Erinnerung habe.

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Wolgograd http://www.hntrlnd.de/?p=1050 http://www.hntrlnd.de/?p=1050#comments Wed, 25 Jun 2014 04:06:26 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1050 Flaniermeile, eindeutig in Russland

Flaniermeile, eindeutig in Russland

Der Zug fährt eine dreiviertel Stunde durch die Stadt, bis er am Bahnhof ankommt. Wolgograd zieht sich an der Wolga in die Länge. Unser Hostel ist einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und liegt im absoluten Zentrum, in der fünften Etage eines Hochhauses an der „Straße der Helden“. Von hier aus ist der Prunk der sozialistischen Architektur und auch die Erinnerung an den großen Vaterländischen nur einige Schritte entfernt.

Das Stalingradmuseum

Das Stalingradmuseum

Die Frauen sind selten aufgetakelt, sie spazieren über die Straßen leger gekleidet, selten hochhackig. Es herrscht eine freundschaftliche Stimmung, Bekannte umarmen sich innig und lange. Überhaupt scheint es den Bürgern, genauso wie der Stadt gut zu gehen. Selbst Verkäuferinnen sind freundlich und leisten sich höfliche Floskeln. Ein Eindruck, den man in Russland sonst selten bekommt. Vielleicht ist das gute Wetter schuld, oder die überstandene Mückenplage. Tagelang wollte kein Wolgograder auf die Straße gehen, denn er stand sofort in einer schwarzen Wolke von Mücken, die sich in diesem Jahr besonders gut am Fluss entwickeln konnten. Jetzt sind Abends immer noch Mücken da, aber es lässt sich wieder schlendern.

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Ausserdem bekommen wir ja wieder nur einen kurzen Eindruck. In drei Tagen kann man keine Stadt so kennenlernen, wie sie sich im Alltag darstellt. Ganz im Gegenteil, wenn wir uns endlich soweit zurechtfinden, dass wir uns auch ohne Stadtplan um einige Ecken trauen, dann reisen wir auch schon wieder ab.
Der Eingang zum Museum Panzer und Klettergerüst heroisch ... ... und stark bewaffnet

Lenin haben wir in Wolgograd gefunden. Erst einmal war er nur im Souvenirshop des Stalingradmuseums zu finden, hier geht es in chronologischer Raumaufteilung eher um die Zeit der Belagerung durch die Nazis, da war Lenin schon tot. Allerdings kann man aus dem Stadtzentrum raus fahren, zum Beispiel eine Dreiviertel Stunde mit der Elektritschka, in Richtung des Wolga-Don-Kanals.

Lenin monumental

Lenin monumental

Dort wurde zum Anlass der Fertigstellung des Kanals das größte Stalindenkmal der Welt errichtet. Es stand dort 12 Jahre. 2 Tage nach der Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd wurde es abgerissen. Mitte der Siebziger Jahre wurde auf den immer noch vorhandenen Sockel eine ähnlich große Leninstatue gestellt. Die Wolgograder sagen: „Eigentlich wurde nur Stalins Kopf ab- und Lenins Kopf raufgeschraubt.“

Lenin geht

Lenin geht

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Sotchi – Jerewan http://www.hntrlnd.de/?p=737 http://www.hntrlnd.de/?p=737#comments Fri, 09 May 2014 06:02:17 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=737 Im armenischen Baumarkt habe ich nach langem Suchen endlich die Abteilung mit den Stichsägeblättern gefunden. Diese brauchte ich, um ein fehlerhaftes und dauerhaft knarrendes Brett in den Fußbodendielen unseres Schlafzimmers zu beschneiden, denn der Besitzer des Hostels hat nur eine Stichsäge, keine Sägeblätter. Ich stelle fest, dass ich kein Geld bei mir habe und nehme mir vor, die Sägeblätter zu stehlen, das kann ich gut, denn ich stehle ja oft. Auf dem Weg zur Kasse finde ich in einem der unteren Regale noch schöne, glänzende Glasmurmeln, ich stecke mir noch vier davon ein, eine ist leider zu groß für meine Hosentasche und so fällt sie mir auf dem Weg an der Kasse vorbei auf den Steinfußboden und zerbricht. Der Polizist am Eingang bemerkt natürlich mein schuldbewusstes Gesicht und nimmt mich mit auf die Wache. In diesem Moment klappert die Tür des Nachbarzimmers in unserem Hostel und ich wache auf. Wieder mal totalen Mist geträumt.

Flughafen Sotchi - wie alles hier ein wenig zu leer

Flughafen Sotchi – wie alles hier ein wenig zu leer

Um nach Armenien zu kommen, genauer gesagt nach Jerewan, müssen wir erst mal aus Russland, genauer gesagt aus Sotchi, raus. Unser Pässe werden viereinhalb mal kontrolliert, ein halbes mal freundlich, der Rest besteht aus kritischen Blicken und Fragen, was wir in Armenien wollen und warum wir in der Ukraine waren. Besonders Jens wird auseinandergenommen, weil er versucht, möglichst korrekt auf die Fragen in russischer Sprache zu antworten, ich stelle mich doof, frage einfach immer „In english please?“ und werde in Ruhe gelassen. Danke, Max Demian. Auf der Toilette, auf der ich nochmal schnell pinkeln gehe, riecht es, als habe ein ganzes Bataillon der russischen Armee seine letzte Rauchpause vor der Invasion der Ukraine gemacht. Ein alter, russischer Mann erbricht sich ins Waschbecken neben mir. Als ich ihn frage, ob er vielleicht Hilfe braucht, schaut er mich an, als ob ich ihn bestehlen will und erbricht sich wie selbstverständlich ein weiteres mal. Händewaschen fällt also diesmal aus. Das Flugzeug, ein Airbus A 319, ist nur zu einem Drittel gefüllt, die hübschen Stewardessen bedienen die drei Herrschaften in der Business- Class und die Oma, die kurz vorm Flug einen Kreislaufkollaps bekam und deren Mitflug nur Dank des Heulens ihrer Tochter doch noch zugelassen wurde. Wir hingegen bekommen unsere Getränke von Igor und Anton, das denke ich mir nicht aus! Das Brötchen, das sie uns als Snack zum Tomatensaft reichen, hat drei Scheiben Fleisch und ein Stück Gurke als Inhalt, Vegetarier bleiben eben hungrig. Zum Glück hat uns Igor zuvor noch die Sitze am Notausgang zugewiesen, da muss wohl immer jemand sitzen, wir haben doppelte Beinfreiheit, die drei Girls hinter uns instagrammen fleißig und kichern, wenn wir uns umdrehen, bei der Landung klatschen die Passagiere, der deutsche Pauschaltourismus hat sich also durchgesetzt. Nur noch nicht bei mir.

Blick übers Zentrum von Jerewan

Blick übers Zentrum von Jerewan

Jerewan erwartet uns heiß und freundlich. Eine winzige Kontrolle, schon stehen wir am Taxistand. Die letzte christliche Bastion vor der muslimisch geprägten Pufferzone zwischen Europa und Asien, gemeinhin als Kaukasus bekannt, will uns gleich mit dem dreifachen Fahrpreis abzocken, was auch klappt – zum letzten Mal, denn danach fahren wir nur noch mit Kleinbussen für ca. 20 Cent pro Fahrt. Sobald unsere Mitfahrer unsere Unkenntnis der armenischen Sprache bemerken, wird uns anstandslos geholfen, die richtige Station zu erwischen. Interessant ist auch, dass man nicht beim Einstieg bezahlt, sondern erst beim Ausstieg, was ein gehöriges Grundvertrauen voraussetzt, welches von allen, wirklich allen Fahrgästen wie selbstverständlich erfüllt wird; mir erscheint das als gesellschaftliche Verabredung.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

Neben den tausend Bussen in zig Formen, Farben und Altern besitzt Jerewan eine einzige U-Bahn-Linie, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der dies hier noch die Armenische SSR war, und so wie es aussieht, das letzte, denn ansonsten finde ich nichts russisch Anmutendes außer den üblichen Ladas, einer russischen Minderheit und der russischen Sprache als Hilfssprache, die sich aber mittlerweile ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Englisch liefert, auf dem dritten Platz und – zu meinem Erstaunen – nicht allzu abgeschlagen, liegt Deutsch.

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Bei den Menschen fällt das Aussehen auf; die meist schwarzhaarigen Männer tragen einen oftmals recht tiefen Haaransatz im Gesicht und auch die Monobraue ist weit verbreitet. Manchmal teilen sich drei Männer eine einzige Augenbraue. Die Frauen sind entweder geschminkt wie Kleopatra oder gar nicht, einige von ihnen versuchen, ein europäisches Schönheitsideal nachzuahmen, wobei ich mich frage: warum? Das Leben spielt sich draußen ab, meistens nach Einbruch der Dunkelheit, was den Temperaturen geschuldet sein mag.

Jerewan bei Nacht

Jerewan bei Nacht

Wieder viele Kinder überall, Fahrradverleih auf dem Opernplatz, Café an Café, voller Besucher, wann arbeiten die eigentlich alle? Freundliche Polizisten, Berge im Nebel, alles sehr europäisiert, die Häuser aus festem Stein gebaut, keine Chance und Notwendigkeit für blätternden Putz. Eine Stadt, eingerahmt von Heldendenkmälern mit Schwertern, kargen Hügellandschaften, einer übermächtigen Gedenkstätte zum Genozid durch die Türken, Fernsehturm, Lichter überall.

typisches Wohnviertel im Zentrum

typisches Wohnviertel im Zentrum

Die Lichter sind nicht selbstverständlich, so gab es in Jerewan zwischen 1991 und 1996 täglich nur eine bis zwei Stunden Strom, was einem großen Erdbeben, dem Zerfall der UdSSR und der damit verbundenen Energieknappheit zuzuschreiben ist.PanoramaSeit kurzem gibt es ein staatliches Rentensystem, welches nur wenige wollen, eine Stimme bei der Präsidentenwahl kann für ca. 12 Euro verkauft werden, es gibt keine militärische Kultur in diesem Land und der Genozid schwebt über allem. Aber dazu bald mehr, denn da gibt es noch viel zu lernen für uns.

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Die alte Frau und das Meer http://www.hntrlnd.de/?p=721 http://www.hntrlnd.de/?p=721#comments Wed, 07 May 2014 07:09:30 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=721 Die Gartenpflanzen sind  Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Die Gartenpflanzen sind Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Unser Gastgeber André arbeitet im Management des “Bridge Resort”, einem frisch für die Olympiade gebauten Hotelkomplex direkt neben dem Gelände der Olympischen Spiele. In Sicht- und Rufweite zur abchasischen Grenze wurde für das riesige Areal, das wir alle aus den Livebildern des Februars kennen, eine ganze Sumpflandschaft trockengelegt, zuvor gab es nur an vereinzelt erhöhten Stellen kleinere Fischerdörfer. Heute erheben sich hier ganze Berge aus Bettenburgen, alles ist eingezäunt – durch große Teile der Hotelstadt und des olympischen Dorfs dürfen wir nicht spazieren, die Swimming Pools werden sauber gehalten für Gäste, die es nicht mehr oder noch nicht gibt.

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Und so ist auch das Bridge Resort eingezäunt. Die Hotelhäuser weisen mit Namen wie „Sydney“ oder „New York“ auf ihre olympische Vergangenheit hin. Das Hotel ist schick und funktional, hat zu dieser Jahreszeit etwas wenig Gäste und etwas mehr als genügend Personal. Eine große russische Baufirma errichtete fast die Hälfte der Häuser um den Olympiapark, sie ist nun Eigentümer von Leerstand bis auf einige Inseln, zu denen auch das Bridge Resort gehört – hier und da werden gerade Konzepte einer Nutzung der Gelände  erarbeitet, unabhängig von künftigen Hochzeiten wie Formel 1 und Fußball-WM 2018.

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Vom Hotel sind es etwa 100 Meter hin zu Betondamm, Steinstrand und Schwarzem Meer. Dazwischen ein kurzer Abschnitt, Blechzäune, zwei Meter hoch, mit der Kopie eines Holzfunierplastikimitats beklebt. Dahinter Höfe und Häuser des Dorfes, dass schon vor Olympia existierte. Irgendwo ein Durchgang zwischen Zäunen, ein schmaler Asphaltweg führt zwischen weiteren Zäunen durch das Dorf. Dort, wo die Straße parallel zur Promenade abbiegt, steht ein überdachtes Metallgestell an einem kleinen Zweiraumhaus. An der Wand ein Kühlschrank, ein Regal, halbvoll mit Tütensuppen, Keksen, Trockenfisch und den üblichen, weltweit bekannten Getränken. Eine junger Straßenhund tappst um einen Knochen herum, den er sich vorgenommen hat zu zerkauen. Er schiebt den Knochen und sich zwischen zwei Bänke und einen Tisch, die unter dem Blechdach aufgestellt sind. Eine ältere Frau räumt irgendwas auf. Ich frage sie, ob wir uns hinsetzen und einen Tee trinken können. „Ja natürlich, ich mache euch einen Tee,“ sagt sie lächelnd, „aber ihr braucht Petschenie zum Tee.“ Sie zeigt auf die drei verschiedenen Sorten von Keksen. „Njet, tolko Tschai.“ antworte ich und sehe dabei Dirk, der schnell mal Hunger hat. „Ili, kakoi Petschene u was jest?“

"Das ist nicht mein Laden."

“Das ist nicht mein Laden.”

„Hier, das wollt ihr bestimmt.“ sagt sie, öffnet den Kühlschrank, holt eine mit süßer Sahne und Marmelade gefüllte Biskuitrolle aus der Verpackung und schneidet sie für uns in Scheiben. „Wartet, ich mache euch den Tee. Mit Zitrone und Zucker?“, dann geht sie in den hinteren Raum.
Als sie mit dem Tee zurückkommt, frage ich sie, wie lange sie hier schon wohnt. „Naja, so vierzig Jahre da drüben,“ sagt sie und zeigt auf ein Haus, dessen rotes Wellblechdach über den beschriebenen Zaun hervorguckt, „in einer Kommunalnaja.“ „Und wie lange haben Sie den Laden?“ „Das ist nicht mein Laden“ grinst sie. „Wie ist es denn für Sie, wenn hier die neuen Häuser entstehen?“

Blechdächer und Asphalt

Blechdächer und Asphalt

„Naja, wie soll es sein. Die Straße hier“ – sie zeigt auf den Asphalt – „haben sie uns schön gemacht, vorher konnte man hier kaum noch langlaufen und wir haben ein neues Dach bekommen, es hat doch schon jahrelang bei uns durchgeregnet. Das ist eine arme Kommunalnaja, drei Familien teilen sich eine Küche und eine Toilette gibt es nur auf dem Hof.“ „Wurde das auch geändert?“ „Nein, aber das Dach ist jetzt neu.“ „Und die Zäune? Früher konnten Sie doch bestimmt im Hof sitzen und auf das Meer gucken?“ „Ja, aber das Meer ist doch immer noch da?“ fragt sie verwundert. „Und jetzt gibt es einen Damm, keine Überschwemmungen mehr.“ dann hält sie kurz inne „Aber hier wird bestimmt auch bald alles abgerissen.“ „Wissen Sie das schon?“ „Es wird geredet. Warum sollte hier nicht auch alles schön gemacht werden?“ „Und wohin gehe Sie dann?“ Sie zuckt mit den Schultern, lächelt dabei weiter. „Denken Sie, die russische Gesellschaft wird Sie weiter unterstützen?“ „Ich weiß es nicht“ sagt sie.

Gleich bekleckert er sich

Gleich bekleckert er sich

Dirk rutscht das Glas Tee aus der Hand, es kippt nicht, aber verschüttet den Tee teilweise auf seine Hose. Sie ist erschrockener als wir, holt ein Handtuch und sagt: „Das ist ja nicht so schlimm.“ „Nein, ist es nicht“ sagt Dirk, ihm passiere das häufiger. „Der Tee war doch nicht mehr so heiß? Das ist ja nicht so schlimm.“ Sie verhält sich, als hätte sie den Tee auf Dirk gekippt, beruhigt sich erst, als er an seiner Hose herumtupft. Natürlich frage ich sie, ob ich ein Foto von ihr und ihrem Laden machen kann. „Na gut, machen Sie mal.“ Sie setzt sich hinter den Trockenfisch. Ich zeige ihr das Foto im Display. „Aber das können Sie mir nicht geben?“ fragt sie. „Nein,“ sage ich „das kann ich hier nicht auf Papier machen.“ Dann halte ich kurz inne. „Aber ein Freund arbeitet nur hundert Meter entfernt in dem Hotel, ich werde ihn fragen, ob er es ausdrucken und ihnen vorbeibringen kann.“ „Nein, das ist doch zu viel Aufwand.“ „Ist es nicht, die Viertelstunde kann er sich bestimmt nehmen. Naja, vielleicht bringt er Ihnen ja das Bild vorbei, vielleicht aber auch nicht.“ Wir haben den Tee getrunken, die Biskuitrolle ist aufgegessen. Also verabschieden wir uns und schlendern weiter durchs Dorf. Links und rechts der Dorfstraße werden wir eingezäunt von mit Plastikfolie beklebtem Blech.

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Russlands Riviera http://www.hntrlnd.de/?p=709 http://www.hntrlnd.de/?p=709#comments Tue, 06 May 2014 05:24:58 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=709 Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Vor 27 Jahren legte mein Opa fest, daß er die Fotos entwickeln würde. Das sei nötig, denn der Filmtransport hätte nicht richtig funktioniert; wenn man die Filme in die Entwicklung geben würde, kämen garantiert keine brauchbaren Bilder heraus. Im Hotel “Tschemschuschina” wurden die Filme unter der Bettdecke aus der Kamera genommen und lichtsicher verpackt. Am Ende gab es kein einziges Foto, denn alle Filme waren doch vor der Entwicklung belichtet.
Heute fragt die digitale Fotografie nicht nach Filmentwicklung. Die Impression versucht sich sofort im digitalen Speicher zu bebildern.

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Das Hotel „Tschemtschuschina“, also „Perle“, gibt es immer noch. Ich bin mir sicher, dass die vier Sterne neben dem Logo schon zu Intourist- Zeiten repräsentativ dazugehörten, aber sie sagen wohl nichts über Qualität aus. Denn wenn man erst mal piepend durch die scheinbar unbewachten Metalldetektoren ins Innere des Hotelkomplexes gelangt ist, erscheint der Raum immer noch in sozialistischer 80er-Jahre- Architektur. Ich versuche, mich zu erinnern, hatte immer vermutetet, die Größe des Hauses hätte mich derart beeindruckt, weil ich damals kleiner Jungpionier war.

"Perle" - Sternstunde des UdSSR-Tourismus

“Perle” – Sternstunde des UdSSR-Tourismus

Aber der Eindruck bleibt, das Haus ist riesig und hässlich, die Ein- und Ausgänge sind immer noch im russischen verkupferten Design, das ich aus den Achtzigern kenne, die typische Farbe jeder damaligen Metrostationstür.
Die Eingangshalle ist in ihren Dimensionen trotzdem stark geschrumpft. Eingemietete Läden bilden eine kleine Stadt innerhalb des riesigen Hotelkomplexes.
Sochi ist bereits Anfang Mai gut besucht, im Sommer werden sich Touristenmassen von den Hotels zum Strand schlängeln, jetzt sind die Promenaden und Parks noch begehbar genug zum Schlendern und Staunen. Die Sonne scheint bereits heiß und heftig.

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Die Promenade hat ihre Weitläufigkeit eingebüßt. Das Kleingewerbe mit seinen Läden hat sie zu einer kilometerlangen Einkaufszeile gemacht. Getränke, Eis, Souvenirs (sehr viele Olympia-Reste), Fußputzerfischsessions, Schießbuden, Flipflops, Fastfood, Massage, bekannte Touristenfallen und neue Geschäftsideen drängen sich aneinander und stellen Überfluss dar. Die Preise sind europäisch minus zehn Prozent.
Mitsamt den Hotel- und Ressortneubauten ist Sochi verwinkelt und kleinteilig geworden. Dabei ragen die Bettenhäuser in den Himmel. Lenin wird an allen Seiten von werbebeschilderten Wolkenkratzern bewacht.

Das Lenindenkmal und seine Bewacher

Sochis Lenindenkmal und seine Bewacher aus Stahlbeton

Zwar werden auch die Parks vom Neubau bedrängt, ihre subtropische Schönheit haben sie dabei nicht verloren. Licht und Schatten laden im Grün der Platanen und Palmen zum Hinsetzen und Gucken, oder Dösen ein, der verspiegelglaste Horizont kann schnell ignoriert werden.
Kann ich durch Sochi schlendern und mich erinnern? Nein, das kann ich nicht. Das ein Vierteljahrhundert alte Bild gibt es nicht mehr. Wie in jeder russischen Boomtown wird das Alte vom Neuen eingebaut und überbaut, bis es verschwunden ist. Wenn ich mich nicht mehr erinnern will, finde ich eine auf Massentourismus spezialisierte Idylle vor, in der sogar ich mir Pauschalurlaub zwischen Spa und Steinstrand vorstellen könnte.

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Mein Opa war Ökonom und kannte die realen Zahlen. Ich vermute, dass er nach Sochi den irrationalen Gedanken hatte, sein Sozialismus hätte doch eine Chance, zu schön war es hier. Kurz nach dem Sochi-Urlaub ist er gestorben. Völlig überarbeitet und zu viel geraucht hat er auch.
Nach dem brachialen Urkapitalismus der Neunziger fängt der neue russisch geplante Kapitalismus an zu funktionieren. Die Ruinoks sind sauberpoliert und voll mit Waren und Lebensmitteln aus allen Teilen des Riesenlandes, das Angebot ist beeindruckend. In Sochi und Adler gibt es keine offensichtliche Armut. Bestimmt staatlich forciert, denn hier soll Urlaub gemacht werden, ohne Sorge. Die ganze Welt kann in den überdimensionierten Bettenstädten um Sochi herum einquartiert werden. An den teilweise künstlichen Steinstränden wird in diesem Sommer über hunderte Kilometer hinweg sonnengebadet. Alles ist da, Mangel wird aus dem Wörterbuch gestrichen. Schöne neue Überflusswelt.

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Das verlassene Sanatorium http://www.hntrlnd.de/?p=673 http://www.hntrlnd.de/?p=673#comments Sun, 04 May 2014 14:10:42 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=673 Sanatorium

Heute haben wir zwischen all dem Glanz und Gloria in Sochi ein Sanatorium entdeckt, was – ich bin kein Architekt – wohl vor 1900 gebaut worden sein muss, von 1941 bis 1945 als Lazarett diente und den Eindruck erweckt, als hätte Nikolai Ostrowski hier “Als der Stahl gehärtet wurde” geschrieben.

Wer's lesen kann...

Wer’s lesen kann…

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Geheiratet wird ja immer irgendwo.

Geheiratet wird ja immer irgendwo.

Schön Gassi gehen.

Schön Gassi gehen.

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