hntrlnd » Rituale http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Moskau http://www.hntrlnd.de/?p=1061 http://www.hntrlnd.de/?p=1061#comments Fri, 27 Jun 2014 09:32:35 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1061 Moskaus Nächte leuchten

Moskaus Nächte leuchten

Vor 26 Jahren ging ich im Stadtteil Jugo-Sapadnaja zur Schule. Die DDR hatte eine Vorzeige-Botschaftsschule gebaut, mit Aula und Sporthalle, alle Kinder von in Moskau lebenden DDR-Bürgern gingen hier hin. Jeden Tag fuhr uns ein Bus aus dem Wohngebiet der Armee-Studenten in Birjulewo hier hin, die Fahrt führte damals eine dreiviertel Stunde durch die breiten Moskauer Straßen, welche leer waren, im Vergleich zum heutigen Verkehrsaufkommen. Ich steige also in die Metro der roten Linie und fahre sie bis zur Endstation im Südwesten. Die Stadt hat sich auch hier komplett verändert. Zwischen den Hochhäusern der Achtziger stehen inzwischen riesige, doppelt so hohe Klötzer.
Vor 25 Jahren standen hier kaum Häuser Wohngebiet der deutsche Botschaft neu verputzt Die Botschaftsschule neu verputzt Zäune und Wachhäuschen

Während man damals zum Hügel sehen konnte und bereits das Botschaftsgelände sah, steht heute ein weiterer Stadtteil dazwischen. Damals waren die fünf Wohnhäuser der Mitarbeiter von Botschaft und Handelsvertretung frei zugänglich. Heute ist das Botschaftsgelände mit einem Zaun abgesperrt. Da ich an einem Sonntag vorbeigehe, werde ich an den Wärterhäuschen abgewiesen, mein deutscher Pass bringt mich nicht weiter. Mir wird eine Telefonnummer gegeben, unter welcher ich einen Passageschein beantragen kann, aber nur Wochentags. Alle Häuser sind frisch und nach deutschem Stil verputzt. An dem ebenfalls durch den Putz kaum wiederzuerkennenden Schulgebäude prangt neben langweiligem Logo die Zeile „Deutsche Schule in Moskau“. Das vereinte Deutschland hat also das DDR-Gelände übernommen und sich mit Zäunen und Wärterhäuschen ein abgekapseltes Ghetto gebaut, welches einen Austausch mit dem Moskauer Stadtleben erst außerhalb des Zauns ermöglicht. Hier kann ich weder Fotos machen, noch mich mit Botschaftsmitarbeitern und Familien unterhalten.

Das Wohnheim in Birjulewo

Das Wohnheim in Birjulewo

Ich rufe also am Montag an. Mir wird mitgeteilt, dass die zuständige Mitarbeiterin in einer Konferenz ist, ich solle in einer halben Stunde nochmal anrufen. Nach dieser werden meine Anrufe mit einem Dauerklingeln beantwortet, niemand nimmt ab. Ich versuche über eine Stunde lang jemanden an den Hörer zu bekommen, ohne Erfolg. Über den Tag versuche ich es noch einige Male, keine Rückmeldung. Also bleiben nur ein paar Fotos von Zäunen. Ich hätte gern Jemanden zu den Entwicklungen in den letzten 26 Jahren befragt, aber dieser Moskau-Aufenthalt ist zu kurz dafür und die Kommunikationsbereitschaft eindeutig zu schlecht.
Da, wo die Geschichte von "Der Meister und Margharita" beginnt perfekter Hintergrund Pjotr I und krasnui oktjabr Springbrunnen und Holzterrasse und entspannen

Stattdessen lassen wir uns vom neuen Moskau beeindrucken. Wir machen mit Tatjana, die wir in Kirgistan kennengelernt haben, einen Abendspaziergang. Die Stadt stampft sich immer wieder und ständig neu aus dem Boden. Sie schraubt weitere Metrolinien drunter und sie wächst weiter in die Höhe. Der Eindruck, den die explosionsartige Entwicklung macht, ist überwältigend. Dabei sind die Moskwitschs unhöflich und aggressiv, wie sie es schon immer waren. Beim Ticketkauf in der Metro sollte man das Genuschel nicht missverstehen, bei Nachfrage wird man angeschrien. Es scheint unter Verkäuferinnen ein Wettbewerb zu bestehen, in welchem die gewinnt, die möglichst teilnahmslos und mit abwesendem, schon wieder aufs Smartphone starrendem Blick das Wechselgeld in den Verkaufsschlitz wirft. Beim scheinbar abgenötigten Satz nach dem Einkauf im Supermarkt „beehren Sie uns bald wieder“ scheint es auch darum zu gehen, einen möglichst ironisierenden Tonfall zu finden.

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Die „Krasnui Oktjabr“-Schokoladenfabrik hat die Produktion im Stadtzentrum eingestellt. Die Fabrikhallen sind ein perfekt und mit viel Geld saniertes Kunst- und Kulturzentrum geworden. Nach den Luxuskarossen zu urteilen, geht es inzwischen weniger um Kunst, sondern um exquisite Lofts. Am wichtigsten ist das Geld. Das sollte man haben und zwar ausreichend, um in dieser Stadt blind einen Kafee zu kaufen. Der könnte nämlich Scheisse schmecken und fünf Euro kosten. All das ändert nichts an der so nicht erwarteten Freiheit und Ungezwungenheit des Moskauer Nachtlebens. Im Zentrum sind moderne und schöne Parks entstanden, die Leute tummeln sich hier, fahren Rad, Skateboard, Inlines, machen Selfies, starren auf Smarphones und Tablets, surfen auch ohne Telefonkarte im Netz, denn es gibt in fast allen Parks, genauso wie in der Metro freies W-Lan. Alles und Jeder ist technisiert.
Arbat aka. Touriabzocke Das neue Moskau Hilfe für den Donbass Lomonossow Stalinbau - eine der sieben Schwestern

An Holzterrassen, auf denen man rumliegen kann, sind unter den Stufen frei zugängliche Steckdosen angebaut. Davor ein Springbrunnen. Er lässt die Wassersäulen tanzen. Nachts kommen noch wechselnde Farben dazu. Moskau ist wohl nicht mehr nur die teuerste, sondern auch die reichste Stadt der Welt. Vielleicht hat sie gerade den Moment der Aufbruchsstimmung, in welchem das Kreative und Urbane noch kurz atmen darf, bevor es endgültig vom Reichtum eingenommen und zerschlagen wird. Vielleicht kann sie sich aber auch ihre kostenlosen Wohlfühlnischen erhalten. Die Infrastruktur scheint perfekt. Die Steuern sind geringer. Das Leben hier ist irre teuer und der Durchschnittslohn ist unter aller Sau. Die Armut versteckt sich in den Schlafstädten am Rand der Stadt. Aber auch diese sehen weitaus sauberer und wohnlicher aus, als ich sie in Erinnerung habe.

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Wolgograd http://www.hntrlnd.de/?p=1050 http://www.hntrlnd.de/?p=1050#comments Wed, 25 Jun 2014 04:06:26 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1050 Flaniermeile, eindeutig in Russland

Flaniermeile, eindeutig in Russland

Der Zug fährt eine dreiviertel Stunde durch die Stadt, bis er am Bahnhof ankommt. Wolgograd zieht sich an der Wolga in die Länge. Unser Hostel ist einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und liegt im absoluten Zentrum, in der fünften Etage eines Hochhauses an der „Straße der Helden“. Von hier aus ist der Prunk der sozialistischen Architektur und auch die Erinnerung an den großen Vaterländischen nur einige Schritte entfernt.

Das Stalingradmuseum

Das Stalingradmuseum

Die Frauen sind selten aufgetakelt, sie spazieren über die Straßen leger gekleidet, selten hochhackig. Es herrscht eine freundschaftliche Stimmung, Bekannte umarmen sich innig und lange. Überhaupt scheint es den Bürgern, genauso wie der Stadt gut zu gehen. Selbst Verkäuferinnen sind freundlich und leisten sich höfliche Floskeln. Ein Eindruck, den man in Russland sonst selten bekommt. Vielleicht ist das gute Wetter schuld, oder die überstandene Mückenplage. Tagelang wollte kein Wolgograder auf die Straße gehen, denn er stand sofort in einer schwarzen Wolke von Mücken, die sich in diesem Jahr besonders gut am Fluss entwickeln konnten. Jetzt sind Abends immer noch Mücken da, aber es lässt sich wieder schlendern.

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Ausserdem bekommen wir ja wieder nur einen kurzen Eindruck. In drei Tagen kann man keine Stadt so kennenlernen, wie sie sich im Alltag darstellt. Ganz im Gegenteil, wenn wir uns endlich soweit zurechtfinden, dass wir uns auch ohne Stadtplan um einige Ecken trauen, dann reisen wir auch schon wieder ab.
Der Eingang zum Museum Panzer und Klettergerüst heroisch ... ... und stark bewaffnet

Lenin haben wir in Wolgograd gefunden. Erst einmal war er nur im Souvenirshop des Stalingradmuseums zu finden, hier geht es in chronologischer Raumaufteilung eher um die Zeit der Belagerung durch die Nazis, da war Lenin schon tot. Allerdings kann man aus dem Stadtzentrum raus fahren, zum Beispiel eine Dreiviertel Stunde mit der Elektritschka, in Richtung des Wolga-Don-Kanals.

Lenin monumental

Lenin monumental

Dort wurde zum Anlass der Fertigstellung des Kanals das größte Stalindenkmal der Welt errichtet. Es stand dort 12 Jahre. 2 Tage nach der Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd wurde es abgerissen. Mitte der Siebziger Jahre wurde auf den immer noch vorhandenen Sockel eine ähnlich große Leninstatue gestellt. Die Wolgograder sagen: „Eigentlich wurde nur Stalins Kopf ab- und Lenins Kopf raufgeschraubt.“

Lenin geht

Lenin geht

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Mit dem Trolleybus zum Osh-Basar http://www.hntrlnd.de/?p=961 http://www.hntrlnd.de/?p=961#comments Sun, 08 Jun 2014 05:28:52 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=961 Kirschen für ne Mark

Kirschen für ne Mark

Steigst du in einen Trolleybus ein, dann merk dir die Station, die als nächstes kommt, um auf dem Rückweg genügend Zeit zu haben, dich durch die stehenden Fahrgäste zum Fahrer zu zwängen und rechtzeitig passendes Kleingeld bereitzuhalten, bevor du aussteigst. In meinem Fall waren das acht kirgisische Som, also ca. zehn Cent und die Haltestelle am Sportplatz auf der linken Fahrbahnseite, kurz nach der Autowerkstatt, wo die Teppiche zum Trocknen draußen hängen.

Ich bin zum Osh-Basar in Bischkek gefahren mit dem Trolleybus Nr. 4, um was zum Abendessen zu besorgen, einmal quer durch die Stadt. Feste Abfahrtszeiten Fehlanzeige, die Busse kommen in leicht unregelmäßigen Intervallen, die schlicht vom Verkehr abhängen. Am Rand des Basars ein großer Topf auf einem alten Kinderwagengestell, in dem Rindernieren, -herzen und -lebern mit Kartoffeln und Zwiebeln vor sich hin köcheln. Ich probiere, eine Portion kostet 30 Som, ich bestelle kurz vor Ladenschluss für 100. Die Verkäuferin schaut mich erschrocken an und fragt: „Sto?“ Ich sage: „Da, sto! Otschen fkusna!“ („Ja, 100! Sehr lecker!“) Sie hätte wohl nicht erwartet, dass ich Arme-Leute-Essen bestelle, ich bin schließlich Inostranez, Ausländer. Sie flüstert etwas zu ihrer Topfnachbarin, die Pelmeni verkauft, auch diese schaut erstaunt. Aber ich bekomme mein Essen in einer prallen, nach Innereien duftenden Plastiktüte.

Innereien mit Kartoffeln

Innereien mit Kartoffeln

Mit Kopfhörern, Sonnenbrille und Mütze vor den Ansprachen der Verkäuferinnen in der Gemüsehalle versiegelt, entscheide ich mich für die junge Mutter, die Salate verkauft. Die Mütze habe ich für zwei Euro von einem alten Opa gekauft, ich musste das größte Modell nehmen und selbst das passt knapp.

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Ich probiere alles durch und nehme den scharfen Möhrensalat, den mit Möhren und Soja und den mit leckeren Gemüse, was ich nicht identifizieren und die Erklärung dazu nicht übersetzen kann. Egal, schmeckt lecker, mit viel Essig. Ich mit meiner gerade überstandenen Gastroösophagitis sollte das eigentlich nicht essen, aber wer weiß, wann ich nochmal dazu komme.

Die junge Salatmutti

Die junge Salatmutti

Noch zwei Weißbrote für 25 Som, Schnaps haben wir noch zuhause und ich sprinte mit meinen Tüten zurück in die Moskovskaja, dort fährt die Nummer Vier zurück nach hause. Bevor das Fleisch kalt wird. Der Stand mit Zeug In der Trockenfruchtecke Warten auf Godot Weinender Bettler
Im Bus mustern mich zahlreiche Blicke aufgrund der Gerüche aus meiner Tasche. Diese scheinen nicht zu meinem fremdländischen Aussehen zu passen. Alten Frauen wird selbstverständlich ein Sitzplatz freigemacht, neben mir will nur ein alter, dicker Mann sitzen, der sich nach drei Stationen lieber woanders hinsetzt. Als ich aussteige und 20 Som Fahrpreis an den Fahrer reiche, werde ich gefragt: „Adin?“ („Einer?“) Ich schaue mich um und frage: „Tui vidjesch dwa ljudei?“ („Sehen sie zwei Leute?“) Ich bin der letzte Fahrgast, der Busfahrer ist ob meiner Frechheit erbost. Habe mich wohl nicht an eine mir unbekannte Fingerzeig- oder Nennregel gehalten, was die Bezahlung der Fahrt betrifft. Es gibt Anschiss, den ich nicht verstehe, ich bedanke mich so freundlich es nur geht für den Hinweis und steige aus. Gut, dass ich mir den Sportplatz gemerkt habe; schlecht, dass ich vergessen habe, dass noch eine Station zwischen dieser und meiner liegt, so muss ich nun laufen. Schnell in eine Marschrutnaja springen, fällt aus, ich habe im Trolleybus überhebliche 10 Som Trinkgeld gegeben und nun nicht mehr genug Geld, also muss ich laufen. Neben mit her laufen die Hunde der Nachbarschaft, denn die Innereien aus der Tüte riechen einfach zu lecker. Ich werfe ein paar Streifen Möhren hin, das finden sie doof und bellen. Schnell nach Hause, an den Hanfpflanzen am Wegesrand vorbei. Bevor das Fleisch kalt wird.

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Ostern am Schwarzen Meer http://www.hntrlnd.de/?p=353 http://www.hntrlnd.de/?p=353#comments Mon, 21 Apr 2014 06:35:36 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=353 odessatext_01

Babuschkas und Bisnes

Alexandr versicherte uns, er habe eine Ersatzwohnung, die noch besser sei, als die, welche wir gebucht haben; wir haben uns 10:00 Uhr bei der Adresse verabredet. Also warten wir vor dem Eingang zum Ersatzdomizil. Ein orthodoxer Jude spaziert an uns vorbei, seine beiden kleinen Töchter rechts und links an der Hand. Vor dem Laden “Make My Cake” (hier gibt es individuellen Kuchen, Coffee-to-go und Klimbim) steht das perfekt gestylte Hipster-Bike. Entsprechender Zopfträger nippt am Kaffee und touchscreent dabei sein Smartphone. Ein Asiate telefoniert im Vorbeihetzen in asiatischer Sprache. Wenig später drei Jugendliche, die sich auf arabisch verständigen. Innerhalb einer Minute begegnen sich verschiedenste Kultursphären und bilden Alltag. Zweie sitzen auf dem Bordstein, die Rucksäcke lehnen an einer Platane.

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Odessas Straßen

Als er uns entdeckt, ist Alexandr aufgelöst und erschüttert und redet auf uns ein: “Ja dumal wui parui. Wam nado dwuch komnatnui kwartir, prawilno?” Er würde eigentlich nicht zwei Männer in einer Einzimmerwohnung unterbringen. Er hätte uns falsch verstanden und uns für ein Pärchen gehalten. Sofort telefoniert er herum, bekommt aber keine Zusage für eine andere Wohnung. Wir verständigen uns darüber, dass er uns erstmal die Pärchenwohnung zeigt. Sie ist gut saniert und sauber, ein ausgezogenes Riesensofa bildet das Zweierbett, der Fernseher läuft bereits aus irgendeinem Grund. Wie bei allen ukrainischen Sendern sieht man in der einen Ecke des Bildschirms das jeweilige Logo, in der anderen Ecke weht die ukrainische Fahne, darunter wechseln die Slogans “Eine Ukraine!” und “Ein Land!”. Wir haben die Lautstärke des Boilers und des Hinterhoflebens noch nicht mitbekommen und sagen, dass wir die Wohnung nehmen.

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Odessa ist Urlaub pur, das Wetter ist perfekt für den ersten Sonnenbrand. Das jüdische Viertel in welchem wir wohnen ist wie die gesamte Innenstadt in quadratische Karees aufgeteilt. Die Straßen sind riesige Alleen. Die reich verzierten, maroden Fassaden der Häuser scheinen auf eine noch zu erfindende Technologie zu warten, welche es ermöglicht, zu sanieren und gleichzeitig die Verzierung zu erhalten, anstatt sie mit Dämmmaterial zu überkleben und einheitlich zu verputzen. Da es weder Super-, noch Baumarktketten gibt, findet man zwischen den “Produktui”-Tante-Emma-Läden auch gleichkleine Läden, die Fenster und Türen verkaufen. Bewohnt bedeutet längst saniert, was man an den Alu-Plastik-Rahmen der Fenster erkennt. In vielen Ecken ragen Wohnwolkenkratzer aus dem altehrwürdigen Stadtbild hervor. Der Plattenbau ist mitsamt seinen Produktionsstätten längst privatisiert, Architekten haben das sozialistische Einheitsbild der Platte überarbeitet. Fertigwände werden neu gestylt und als Luxuswohnungen an die solvente Kundschaft wie geschnitten Brot verkauft. Odessa ist eine schöne, saubere Urlaubsstadt mit einem gut integrierten Mittelstand.

Kirche und Bisnes

Kirche und Bisnes

Es ist Ostersonntag, alle Ruinoks sind geschlossen, wenige Stände verkaufen Körbchen, die zum ostersonntäglichen christlichen Ritual gehören. Für Spätentschlossene gibt es die Körbchen auch an den Ständen vor den Kirchen zu kaufen. Die halbe Stadt prozessiert in Familiengruppen, mitsamt von bestickten Handtüchern bedeckten Körbchen zur Kirche des Vertrauens, wo sie dann die Dinge machen, die Atheisten wie uns für immer unerklärlich bleiben werden.
Die Demut, mit welcher die Besucher ihren Prozeduren in den Kirchen nachgehen, hat für mich schon fast etwas Unanständiges. Das liegt bestimmt nicht nur an dem kurzen Rock der bekopftuchten jungen Frau, die nach mehrmaligem Bekreuzigen zärtlich und selbstvergessen ihre Lippen kurz auf ein Heiligenbild drückt. Hinter einem Stand in einer Ecke der Kirche stehen Mönche und verkaufen Kunstdrucke von Ikonen an die in Schlange stehende Kundschaft.

Hinter dem Bahnhof

Hinter dem Bahnhof

Die Straßen sind so gut wie leer und nur der konfessionslose Rest schlendert die Alleen entlang. Auf dem Weg zum Bahnhof sind wir ein paar Straßen weiter gegangen. Hier, in der Nähe der Schienen, kümmert sich niemand um Ostern. Die Straßen sind verstaubt und arm. Jeder geht seinem Geschäft nach, so gut es geht. Straßenbahnen kurven über Gleise, denen man keinen Halt mehr zutraut. Jemand hämmert geduldig rostige Eisennägel aus den Bohlen, weicht nur kurz einer vorbeifahrenden Straßenbahn aus und von seiner fragwürdigen Arbeit ab.
In Odessa ist es vorstellbar, dass man sich in Städte verlieben kann. Die Ehrlichkeit eines Zusammenlebens von grundlegend Verschiedenem zieht mich an. Man darf mir Urlaubsromantik unterstellen, berechtigterweise. Denn das bin ich, ein Urlauber, der keine Ahnung vom hiesigen Alltag hat. Zwei uniformierte, nichtstaatliche Milizen eilen aus einem Hinterhof über die Straße und steigen in einen Lada. Bei dem Einen hängt lässig eine Kalaschnikow zwischen Hüfte und Arm. Ich mache kein Foto. Ich bin lieber feige.

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Der Versuch, zu verstehen http://www.hntrlnd.de/?p=296 http://www.hntrlnd.de/?p=296#comments Thu, 17 Apr 2014 19:13:44 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=296 Das dritte AugeAls ich versuche, die Oper der Stadt in meine 50mm Festbrennweite zu stopfen, was an ihrer schieren Größe und der Starrheit meines Blicks scheitert, werde ich angesprochen. Erst auf ukrainisch, ich verneine nett in russisch. Dann in russisch. Ich verneine wieder. Dann polnisch. Dann englisch. Jetzt verstehe ich. Ein „Guide“ bietet uns seine Dienste an, die ich nach kurzem Verhandeln auch annehme.
Was ich lerne:
Lviv hat ca. 800.000 Einwohner, die sich in einer der über 100 Kirchen und Kathedralen der Stadt die Segnung in diversen Glaubensrichtungen abholen können. Ukrainische Katholiken, armenische Christen, Kopten, Russisch-orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe und noch viel mehr. Mein atheistisches Verständnis reicht in Glaubensfragen aber nicht sehr weit, muss ich zugeben. Eins verstehe ich: Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein riesiger Schmelztiegel aus Religionen und Ethnien, die sich vermischten oder auch nicht, die sich vertrugen oder auch nicht, die sich gegenseitig umbrachten oder auch nicht. Besonders bemerkenswert sind die Armenier, die sich ab dem 14. Jahrhundert erfolgreich in Lviv etabliert hatten, mit eigener Rechtsprechung, einem eigenen Viertel, einer eigener Akademie. Heute sind davon nur noch gepflegte Reste vorhanden. Ob das mit dem Genozid durch die Türken zu tun hat oder mit dem Stalinismus, mag ich nicht beantworten, bevor ich nicht in Armenien war. Vorm 2. Weltkrieg gab es zudem eine große jüdische Gemeinschaft; von den ehemals 100.000 Juden sind heute alle tot oder weggebracht und nie wieder zurückgekehrt. Was bleibt, ist eine Ruine und ein Restaurant, was zwar nicht koscher kocht, aber immerhin eine Menora am Eingang stehen hat. Vielleicht ist der Kellner ja wenigstens beschnitten.

Reste der jüdischen Synagoge Jüdisches Graffito in Lviv Vor Ostern wird geputzt! Armenische Kirche Geister kennt doch jeder Hallo Echo. Weiß, die Farbe der Reinheit Blau, die Farbe der ukrainischen Katholiken

Im besten Hotel der Stadt soll mal der Schah von Persien für eine Woche mit seiner Familie untergebracht worden sein. Als es ums Bezahlen des eigens für ihn geräumten Hotels ging, schlug er vor, statt Geld eine Auszeichnung zu verleihen. Daraufhin brach wohl die gesamte Führungsetage des Hotels in Geheul aus. „Bloß keine Auszeichnung, wir wollen lieber Geld!“

Als ich zum Schluss noch ein wenig rumkumpeln will und mich auf russisch bedanke, bekomme ich mit einem scharfen Lächeln unseres Guides Igor die ukrainische, korrekte und gewünschte Variante genannt, die ich mir aber leider nicht merken konnte, lediglich einmal nachplappern. Wenn mal jemand einen guten Guide in Lviv braucht: hier gucken

Was ich selbst sehen konnte: In Lviv finden sich keine Windräder, keine Solarzellen, keine Fahrradfahrer (außer ein paar Jugendlichen, die ihr Fahrrad in Abwesenheit eines eigenen Autos mit Baumarkt-Ersatzteilen aufrüsten), keine Supermärkte, keine Vorfahrt für die rostige Straßenbahn.

Es finden sich auch keine adipösen Menschen außer ein paar beleibten Babushkas und Polizisten, und das, obwohl es kein „Bio“ gibt, keine westeuropäische, als modern behauptete Luxusaskese. Während wir nach Wohlbefinden suchen durch Weglassen, scheint sich Gesundheit hier in erster Linie über den Zugang zu Nahrhaftigkeit zu definieren. Es wird in Fett gebacken, Speck wird am Stück gegessen, Transfette werden hingenommen, Fleisch ist gut und billig.
Was sich ebenfalls nicht findet, sind Lenin-Statuen, die ich erwartet hätte. In der gesamten West-Ukraine soll es wohl keine mehr geben nach den „derzeitigen Ereignissen“, wie man das hier nennt.
Dafür finden sich an jeder Ecke Kinder, allein, ohne Eltern, welche um sie rumhelikoptern oder mit dem Smartphone Bilder zum Angeben bei anderen Smartphone-Eltern schießen. Die Kinder spielen einfach so, ohne Internetverbindung, auf Spielplätzen, deren rostige Metallstangen und abgeblätterte Bleifarbe jedem Sicherheitsbeauftragten in Deutschland den Job kosten würde, wenn das nicht sofort abgesperrt würde.

Auf dem Rynok dann alte Frauen, die Milch in gebrauchten Pepsi-Flaschen und selbstgepflückte Blumen feilbieten. 150 Gramm gesalzener Speck für neun, ein Stück Käse für 13, 500 Gramm besten Schinken für 60, ein großes Weißbrot für fünf Griwna. Macht 87 Griwna, also ca. sechs Euro. Das hätte nicht für den Schinken gereicht in Deutschland. Es hätte ihn auch gar nicht gegeben, da er so lecker schmeckt, das muss was drin sein, was bei uns nicht erlaubt ist.

Eins lerne ich dann aber doch noch: Wenn ich frage, ob etwas erlaubt ist, dann ist es verboten. Wenn ich nicht frage und einfach mache, dann ist es zwar immer noch nicht erlaubt, aber keiner stört sich dran.

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