hntrlnd » Dirk Ramthor http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Auf den Berg mit dem Teufel http://www.hntrlnd.de/?p=1023 http://www.hntrlnd.de/?p=1023#comments Mon, 16 Jun 2014 04:14:08 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1023 Die Kreuzung im Nichts

Die Kreuzung im Nichts

An Kreuzungen wie dieser wacht man auf, wenn man in der Nacht zuvor dem Teufel seine Seele verkauft hat. Staubig, genaugenommen ohne jegliche Umgebung, fern wartet in einer Richtung die Stadt, in der anderen etwas nebulös-unglaubliches, weit, weit oben in den Wolken, was es zu erobern gilt. Wir kamen mit dem Bus Nummer 350 aus Karakol und teilten dem Fahrer mit den goldenen Zähnen das Kennwort „Arashan“ mit, woraufhin er uns an diesem verlassenen Ort aussteigen ließ. Was nicht einfach war; kurz vorher waren in den bereits überfüllten Bus 14 lachende Schulkinder samt gestrenger Lehrerin eingestiegen, ein Huhn wird gackernd in einer Kiste über meinen Kopf von hinten nach vorn gereicht. „Germania?!“ „Gutan Tak! Gitler kaput!“
Kaum ausgestiegen, begegnet uns ein homosexueller und verängstigter Malaie namens Ju-Win, der laut eigenen Worten von einem zwielichtigen und zahnlosen Kirgisen in der Hoffnung nach Geld seit einer Stunde verfolgt wird. Ich meine, was rennt der auch allein hier rum, ohne ein Wort Russisch zu sprechen. Er bittet uns, sich uns anschließen zu dürfen und wir sagen ja, denn wir glauben, nicht der Schwule ist der Teufel, sondern der Zahnlose. Aber wer weiß das schon so genau. Den Kirigisen verscheuchen wir mit bösen Blicken.
Keine Schilder können uns helfen, auf den rechten Weg zu finden, die paar Einheimischen drehen sich arbeitend weg, wenn wir in ihre Nähe kommen. Nach einer Stunde finden wir ein altes Häuschen im Wald, an dem drei starke Männer skeptisch zu uns schauen und sagen, wir seien falsch. Beim Versuch, wieder auf den Weg zum richtigen Oben, zum korrekten Platz unter der Sonne zu kommen, nimmt uns bergab ein großer Wagen mit, der in seinem Laderaum ein paar unschuldige Vorschulkinder geladen hat. Diese starren Ju-win böse an, wer als erster wegschaut, hat verloren. Der Malaie hockt schwankend-kleinlaut in der Mitte, als es über Stock und Stein bergab geht.
DSC03603Der Weg hinauf wird begleitet von einem reißenden Gebirgsbach, der Schmelzwasser und Hoffnungen auf ein schnelles Ankommen hinunterspült, denn es wird steiler und steiler. Kinder befüllen Wasserkanister, die an Pferden hängen. Wohlhabende oder alte Touristen sitzen in dürftig geschweißten und frisch lackierten Containern, die auf dem Rücken von sowjetischen Allradfahrzeugen den Berg hinaufgebuckelt werden. Sie schauen von oben auf uns herunter, wir auf sie hinab. Uns kommen Menschen zu Fuß entgegen, in westeuropäische Funktionsjacken gekleidet, mit Stöcken aus Metall in ihren Händen; doch egal, wie lange wir laufen, erzählen uns diese Menschen immer, es seien immer nur noch drei Stunden bis auf den Gipfel.
Der Malaie, der uns nun wie ein Schatten begleitet, erscheint mir zu schlau und er fragt zu viel. Egal, wie schnell wir die Berge hinauflaufen, er nimmt dasselbe Tempo, er meckert nicht, fragt nicht nach Pausen, lässt uns den Vortritt, wenn wir kleine Bäche mit Sprüngen überqueren. Er hat nur eine kleine Flasche Wasser bei sich und ein Stück trockenes Brot. Als wir uns zu einem Schäfer und seiner Herde setzen und mit ihm eine Zigarette rauchen, lässt sich der Schäferhund bereitwillig von uns streicheln, den Malaien bellt er ängstlich-agressiv an und will ihn beissen, als dieser ihn mit seinem Smartphone fotografiert. Auch der Schäfer ist skeptisch und zieht seinen Hund ganz nah zu sich heran. Kurz darauf verschwindet er mit seiner Herde wieder in die Hügel, Ju-win überspielt die Situation durch knappes Lachen und mit der Aussage, es sei ja nichts passiert.

Zwei Zigaretten für ein Foto

Zwei Zigaretten für ein Foto

Wie die Geschichte ausgeht, weiß ich noch nicht. Bestimmt böse. Vielleicht aber doch mit Happy End? Treffen wir Gott? Nein, den gibt’s ja gar nicht, ebenso wie den Teufel. Naja, wir werden sehen. Genauso wie noch mehr Bilder.

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Mit der Marschrutka von Bischkek nach Karakol http://www.hntrlnd.de/?p=973 http://www.hntrlnd.de/?p=973#comments Sun, 08 Jun 2014 06:02:36 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=973 Rauchpause im Nichts

Rauchpause im Nichts

Bevor die Reise beginnt, sprechen einige Fahrgäste ein Gebet. Ein alter Mann flüstertütet die abfahrenden Busse wie ein Muezzin, die Busfahrer werben für ihre Strecke mit dreifachem Rufen des Zielorts, Billets gibt es an der zentralen Kasse. Das Gepäckabteil des Sprinters, in dem wir gute fünf Stunden und knappe 400 km von Bischkek nach Karakol fahren werden, hat eine Packdichte höher als Blei.

Awtowoksal Bischkek

Awtowoksal Bischkek

Schnell noch ein paar Samsa (Blätterteigtaschen gefüllt mit Fleisch, Zwiebeln und Zeug) und zwei Flaschen Limo kaufen, ein Bordrestaurant ist nicht zu erwarten. Eine alte Frau hält Bananen durch die Fahrertür, eine andere Kirschen, Gurken, Tomaten. Der Bus fährt wie immer erst dann los, wenn er voll ist. Kommt man als einer der ersten Gäste, wartet man eben länger – feste Abfahrtszeiten sind auch hier Fehlanzeige. Was nicht mehr ins Gepäckabteil passt, steht eben im Gang. Ebenso wie ein Mann ohne Zähne und Fahrkarte, ein anderer hat sich gleich einen Hocker mitgebracht. Mein „voll“ ist ein anderes „voll“.

Je weiter wir nach Osten kommen, desto flacher, kleiner, bunter und verstreuter werden die Häuser, mehr und mehr erscheinen Schafherden, Kühe, Pferde vorm gebirgigen Horizont. Besagte Pferde sieht man nun öfter als Fortbewegungsmittel von Kindern, jungen Männern und Opas; Mädchen, Frauen und Omas gehen zu Fuß. An Kreuzungen mittig unbefahrene Dreiecke aus Schutt, Staub, Kiesel und klein gefahrenen Plastikabfällen. Gelegentlich stehen Menschen am Straßenrand, die von irgendjemandem mitgenommen werden wollen. Ein schmaler, fruchtbarer Streifen, einer Oase ähnlich, zwischen Hochgebirge und Yssyk-Köl auf 1600m Höhe wird geteilt von der Straße, aus der wir überladen dahin rasen und kaum Blicke für Dörfer aus Lehm, Holz und vergilbter Werbung finden, genauso wenig für die heruntergekommenen Sanatorien aus UdSSR-Zeiten, die irgendwie zwischen Betrieb, Abriss und Renovierung vor sich hin existieren. Es wird so lange auf der besseren Gegenspur gefahren, bis der Gegenverkehr hupt. In Kurven wird die Fahrbahn auf der vollen Breite ausgenutzt, der Fahrer telefoniert und raucht. Die Fahrbahn ist nicht die schlechteste, die Menschen hoffen und ertragen still. Züge findet man in diesem Land kaum, so hat sich der Busverkehr als das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel etabliert. Das weiß auch die Polizei, die alle 20km mit einer Radarfalle wartet.

Landschaft exisitert eher in der Ferne

Landschaft exisitert eher in der Ferne

Der kleine Junge mit den großen, dunklen Augen kann diese nicht von mir lassen. Die Hälfte der Fahrt muss er mal auf dem Schoß seines Vater, mal auf dem der Mutter sitzen und schielt oft von schräg vorne zu mir herüber. Als dann eine Stunde vor Ende der Fahrt zwei Fahrgäste aussteigen, darf er auf dem Sitz neben dem Fahrer sitzen und strahlt die ganze Zeit quer durch den Bus zu seinem Vater, der endlich schlafen kann. Es scheint die größte Reise seines Lebens zu sein.

Der Junge und der Vater

Der Junge und der Vater

P.S. Eine Marschutka ist ein semi-öffentliches Verkehsmittel, meist ein Transporter europäischer Bauart mit langem Radstand und Hochdach. Meist finden sich 13 bis 18 Sitzplätze, mal wurden sie nachgerüstet, mal wurde das Fahrzeug für diesen Zweck gebaut. Eine für deutsche ÖPNV-Verhältnisse undenkbar flexible Variante des außer- und innerstädtischen Kommunalverkehrs, der aber seit Jahrzehnten perfekt funktioniert, obwohl er nicht in dem Maße organisiert erscheint, wie es seine Umfänglichkeit erfordern würde.

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Mit dem Trolleybus zum Osh-Basar http://www.hntrlnd.de/?p=961 http://www.hntrlnd.de/?p=961#comments Sun, 08 Jun 2014 05:28:52 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=961 Kirschen für ne Mark

Kirschen für ne Mark

Steigst du in einen Trolleybus ein, dann merk dir die Station, die als nächstes kommt, um auf dem Rückweg genügend Zeit zu haben, dich durch die stehenden Fahrgäste zum Fahrer zu zwängen und rechtzeitig passendes Kleingeld bereitzuhalten, bevor du aussteigst. In meinem Fall waren das acht kirgisische Som, also ca. zehn Cent und die Haltestelle am Sportplatz auf der linken Fahrbahnseite, kurz nach der Autowerkstatt, wo die Teppiche zum Trocknen draußen hängen.

Ich bin zum Osh-Basar in Bischkek gefahren mit dem Trolleybus Nr. 4, um was zum Abendessen zu besorgen, einmal quer durch die Stadt. Feste Abfahrtszeiten Fehlanzeige, die Busse kommen in leicht unregelmäßigen Intervallen, die schlicht vom Verkehr abhängen. Am Rand des Basars ein großer Topf auf einem alten Kinderwagengestell, in dem Rindernieren, -herzen und -lebern mit Kartoffeln und Zwiebeln vor sich hin köcheln. Ich probiere, eine Portion kostet 30 Som, ich bestelle kurz vor Ladenschluss für 100. Die Verkäuferin schaut mich erschrocken an und fragt: „Sto?“ Ich sage: „Da, sto! Otschen fkusna!“ („Ja, 100! Sehr lecker!“) Sie hätte wohl nicht erwartet, dass ich Arme-Leute-Essen bestelle, ich bin schließlich Inostranez, Ausländer. Sie flüstert etwas zu ihrer Topfnachbarin, die Pelmeni verkauft, auch diese schaut erstaunt. Aber ich bekomme mein Essen in einer prallen, nach Innereien duftenden Plastiktüte.

Innereien mit Kartoffeln

Innereien mit Kartoffeln

Mit Kopfhörern, Sonnenbrille und Mütze vor den Ansprachen der Verkäuferinnen in der Gemüsehalle versiegelt, entscheide ich mich für die junge Mutter, die Salate verkauft. Die Mütze habe ich für zwei Euro von einem alten Opa gekauft, ich musste das größte Modell nehmen und selbst das passt knapp.

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Ich probiere alles durch und nehme den scharfen Möhrensalat, den mit Möhren und Soja und den mit leckeren Gemüse, was ich nicht identifizieren und die Erklärung dazu nicht übersetzen kann. Egal, schmeckt lecker, mit viel Essig. Ich mit meiner gerade überstandenen Gastroösophagitis sollte das eigentlich nicht essen, aber wer weiß, wann ich nochmal dazu komme.

Die junge Salatmutti

Die junge Salatmutti

Noch zwei Weißbrote für 25 Som, Schnaps haben wir noch zuhause und ich sprinte mit meinen Tüten zurück in die Moskovskaja, dort fährt die Nummer Vier zurück nach hause. Bevor das Fleisch kalt wird. Der Stand mit Zeug In der Trockenfruchtecke Warten auf Godot Weinender Bettler
Im Bus mustern mich zahlreiche Blicke aufgrund der Gerüche aus meiner Tasche. Diese scheinen nicht zu meinem fremdländischen Aussehen zu passen. Alten Frauen wird selbstverständlich ein Sitzplatz freigemacht, neben mir will nur ein alter, dicker Mann sitzen, der sich nach drei Stationen lieber woanders hinsetzt. Als ich aussteige und 20 Som Fahrpreis an den Fahrer reiche, werde ich gefragt: „Adin?“ („Einer?“) Ich schaue mich um und frage: „Tui vidjesch dwa ljudei?“ („Sehen sie zwei Leute?“) Ich bin der letzte Fahrgast, der Busfahrer ist ob meiner Frechheit erbost. Habe mich wohl nicht an eine mir unbekannte Fingerzeig- oder Nennregel gehalten, was die Bezahlung der Fahrt betrifft. Es gibt Anschiss, den ich nicht verstehe, ich bedanke mich so freundlich es nur geht für den Hinweis und steige aus. Gut, dass ich mir den Sportplatz gemerkt habe; schlecht, dass ich vergessen habe, dass noch eine Station zwischen dieser und meiner liegt, so muss ich nun laufen. Schnell in eine Marschrutnaja springen, fällt aus, ich habe im Trolleybus überhebliche 10 Som Trinkgeld gegeben und nun nicht mehr genug Geld, also muss ich laufen. Neben mit her laufen die Hunde der Nachbarschaft, denn die Innereien aus der Tüte riechen einfach zu lecker. Ich werfe ein paar Streifen Möhren hin, das finden sie doof und bellen. Schnell nach Hause, an den Hanfpflanzen am Wegesrand vorbei. Bevor das Fleisch kalt wird.

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Isa aus Bischkek http://www.hntrlnd.de/?p=934 http://www.hntrlnd.de/?p=934#comments Fri, 30 May 2014 16:22:19 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=934 Isa aus Bischkek

Isa aus Bischkek

Das ist Isa, die Tochter unserer Nachbarn hier in Bischkek in Kirgistan. Sie ist vier Jahre alt und geht nicht in den Kindergarten, das können sich ihre Eltern nicht leisten. Ihre Mutter ist den ganzen Tag zuhause, ihr Vater fährt vor dem Aufstehen auf Arbeit und kommt erst im Dunkeln zurück, dann sitzt er mit einer großen Flasche Bier auf der ausgebauten Sitzbank seines Transporters im Hof und raucht mit der Mutter. Isa hat noch einen Zwillingsbruder, Igor, und einen großen Bruder, Ivan, der geht schon zur Schule. Am zweitmeisten mag sie Tiger, die fauchen; einen davon trägt sie an einem Faden durch die Gegend, aber einen Namen hat er noch nicht. Am allermeisten aber mag sie ihre Metallflöte, auf der sie sich den halben Tag schief durch die Straßen der Nachbarschaft flötet, langsam ist eine Melodie zu erkennen. Aber sie muss sich oft mit Igor darum streiten, der will auch immer Flöte spielen. Wenn sie sich nicht einigen können oder die Flöte mit Erde verstopft ist, greift Ivan ein oder Mama schimpft. Papa ist nie da. Manchmal spielt Isa auch mit den bunten Platikflaschendeckeln im Hof oder scheucht den kleinen, zerzausten, schwarzen Hund über den Hof. Sie lacht oft, guckt neugierig in unsere Einkaufstüten und fragt uns, warum wir so viele Haare im Gesicht haben. Ich glaube, Isa ist ein glückliches Kind.

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Elektritschka-Epilog http://www.hntrlnd.de/?p=899 http://www.hntrlnd.de/?p=899#comments Tue, 27 May 2014 05:07:02 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=899 In der Elektritschka

In der Elektritschka

Egal wie man sitzt, liegt, lehnt, es dreht und wendet das Gesäß – nach einer Stunde schmerzt es auf hart-lackierten Holzbänken. Belustigte Blicke der Fahrgäste neben uns, durchs ständige Ändern der Sitzposition als Unkenntlicher entlarvt.

Rumpeln der Schienen, rhythmisch-abrupt, Schleifen der Bremsen, Klappern der Fenster und Türen, der Luftzug tut gut, Elektromotoren summen leise und alt, die Lok pfeift kurz vorm Bahnhof, kaum Zeit zum Aussteigen, den Kopf aus dem Fenster, Fliegen und Staub in den Augen. Geschwätz, Gelächter, Gejohle, ob man sich kennt oder nicht, Kinder wechseln die Schösse, Taschen die Hände. Und mittenmang das immer wiederkehrende Ersatzgebet der Lobpreisungen der Verkäuferinnen im Gang. Wasser, Ayran, Samsa, Kleinkram, Zeitungen, was darf es sein? Die ganze Familie ist eingespannt, Oma, Mutter, Tochter, die Stewardessen eines Vorortzuges in Usbekistan, in dem eine Fahrt keinen ganzen Euro kostet.

Die Kleider der Frauen aufwändig im Muster, praktisch im Schnitt, oft an der Hüfte gebunden, mal mit Tasche vorm Bauch, mal mit, mal ohne Arm, doch nie zu kurz an den Beinen. Wenn doch, dann mit Stoffhose ergänzt, auch ein Kopftuch über den schwarzen Haaren darf nicht fehlen, wohl aber aus Gründen der Temperatur, nicht der Religion.

Drei Schaffner sortieren das Geld für die Fahrkarten blind mit geübter Hand. Einer mit dreien, zwei mit zwei Sternen auf hellblauem Schulterstück, die Uniform des Dicken ist am stärksten verwaschen. Der mit drei Sternen nimmt das Geld und die Provision der Verkäuferinnen und steigt als erster der drei auf dem Heimweg aus. Die anderen bekommen Brot, Eier, Tomaten, Salz und essen im Zug. Man stößt an und prostet sich zu, das Wochenende naht, die letzte Fahrt endet in froher Erleichterung.

Kühe, von Jungen gezogen, geschoben, bewacht. Ist keine Kuh zur Hand, wird ein Reifen geschleppt, ein Fahrrad geschoben, im Schatten gesessen, Müll auf kleinen Haufen verbrannt, die Asche mit Stöcken geschürt und verteilt, das Feld bestellt, der Mutter den Einkauf getragen. Trinker schleppen sich durch hüfthohes Unkraut, schlafen am Bahndamm, tot oder lebendig. Zäune, Mauern, blinde Fenster, Zisternen, Gärten, Fabriken und Unrat wechseln sich ab mit versiegelter Erde, gemeinhin Beton genannt. Alles zieht vorbei im gemächlichen Takt der Elektritschka, wer nimmt diese Schönheit noch wahr? Die Stadt kündigt sich an durch Werbung und Hochhäuser.

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Rahbar – das H ist stumm http://www.hntrlnd.de/?p=893 http://www.hntrlnd.de/?p=893#comments Sun, 25 May 2014 18:26:39 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=893 Ein guter Koch und Schnapsbrenner

Ein guter Koch und Schnapsbrenner

Rahbar wohnt in einem Dorf am Rande Bakus in Aserbaidschan, ist 52 Jahre alt und mag Blumen. Seinen selbst gebrannten Schnaps, den er aus den Früchten seines eigenen Gartens brennt, schenkt er uns mit den Worten ein: „Wenn ihr zu viel davon trinkt und ihr ins Krankenhaus kommt, gibt’s Ärger mit der Polizei!“ Rahbar war mal Englischlehrer, obwohl sein Wortschatz ihn doch eher als schlechten Schüler ausweist. Für diese Arbeit zahlte man ihm 400 Dollar im Monat, weshalb er seinen Job aufgab und nun weit draußen für das dreifache Salär in einer unterentwickelten Region auf Geheiß einer NGO, deren Arbeit zu einem Großteil durch die EU finanziert wird, nachhaltige Bildungsprojekte aufbaut und dauerhafte Infrastrukturen schafft. Dafür und davon hat er sich einen schönen Hyundai gekauft, der einen erstaunlichen Pflegezustand aufweist. Die Kinder sind aus dem Haus, der Sohn als Arzt in der Schweiz, die Tochter hat gerade ihren Master gemacht. Seine Frau arbeitet in Afghanistan und ist fast nie zuhause. Ob er Angst um sie hat? Nein, warum denn? Sie wird doch von der UNO beschützt. Wie viele andere Höfe in dieser Gegend schmückt auch seinen Hof ein neues Haus, zwei Stockwerke, viel Platz, Wasserdruck und Voltzahl sehr zufriedenstellend, Holzfußboden, Souvenirs aus allen Teilen der Welt, meist aus Afrika, so wie die Uhr mit den Giraffen oder der Schmuckteller aus Kenia in der Vitrine neben dem Bleiglas aus Paris.

Rahbar mag Blumen, Blumen mögen Rahbar

Rahbar mag Blumen, Blumen mögen Rahbar

Im zweiten, älteren und kleineren Haus wohnt sein Bruder mit seiner Frau und zwei Söhnen, er hat spät geheiratet und arbeitet nicht. In Rahbars arbeitsbedingter Abwesenheit kümmert er sich um Haus, Hof, den Hund und die drei Enten, gießt die Blumen und repariert hier und da was. Seine Söhne, einer fünf, einer zwei Jahre alt, spielen mit uns Fußball, ohne dass wir uns verständigen können, aber für „Ronaldo“, „Schweinsteiger“ und „Gol!“ benötigt es keine Sprache. Seine Frau ist selten zu sehen. Manchmal sehe ich noch eine weitere Frau auf dem Hof, wer sie ist, was sie macht und warum sie so skeptisch schaut, mag ich nicht ergründen.

Einer gegen zwei ist unfair

Einer gegen zwei ist unfair

Rahbar kommt ursprünglich aus Karabach, einer bis heute von Armenien annektierten Region. Der Versuch, sich über den Genozid an den Armeniern zu unterhalten, beginnt mit der Aussage, der große Bruder Türkei wäre den Aserbaidschanern zur Hilfe geeilt und hätte schließlich die Armenier gestoppt, als sie vor Baku standen und wird beendet er mit der Aussage, er sei Englisch- und kein Geschichtslehrer. Dabei nehmen wir in den Gesprächen Rahbar als einen aufgeschlossenen Weltbürger war, so kann er auch die Form der Demokratie, wie sie sich in Aserbaidschan darstellt, recht genau und augenzwinkernd einschätzen. Allerdings ist seine eigene Geschichte, die ihn mit den Armeniern verbindet oder besser gesagt von ihnen trennt, eine andere. Sie beginnt Ende der Achtziger und endet Anfang der Neunziger mit der Vertreibung der aserbaidschanischen Minderheit durch armenische Milizen, wieder starben Menschen. Sein Heimatdorf kann Rahbar nicht mehr besuchen. Damit scheint er sich allerdings abgefunden zu haben, denn es geht ihm augenscheinlich gut, da wo er ist. Kein Grund, über Politik zu sprechen oder im Dreck zu wühlen. Lieber sich und seinen Gästen noch einen Schnaps eingießen, Schaschlik essen und sich des Lebens freuen.

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Stalin – und dann? http://www.hntrlnd.de/?p=857 http://www.hntrlnd.de/?p=857#comments Wed, 21 May 2014 07:19:38 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=857 DSC02728

Um 18:08 an diesem trüben Mai-Dienstag erleichtert sich mein Darm nach kurzer, aber schmerzhafter Ankündigung in die Toilette im Keller der Sportsbar von Gori in der Stalin-Allee Nr. 11. Die Bar hat Wi-Fi, aber keine Toilettenbürste. Mir ist es recht. Nach mir die Sintflut, muss sich Stalin auch gedacht haben. Gori, die Geburtsstadt von Stalin mitten in Georgien ist eigentlich keine Reise wert, wenn man von Stalin nichts wissen will. Eine Stadt mit ca. 60.000 Einwohnern, viele Häuser rufen: „Reiß mich ab!“, viele Einwohner rufen: „Hol mich raus!“, postsowjetische Tristesse, die sich um den Geburstort eines Massenmörders schart, aber das ist nur mein Eindruck, vielleicht gewinnt ein anderer einen anderen. Die Landschaft ist atemberaubend, Kinder winken uns freundlich zu, das Fußballstadion ist neu und kontrastiert den ruinösen Rummel der Stadt.Nach der Besichtigung des Museums hatten wir noch acht Stunden Zeit, bis unser Nachtzug ins vermeintlich gelobte Batumi am heruntergekommenen Bahnhof der Stadt um 00:01 einfahren sollte. Was tun? Wir kannten niemanden hier. Also schauten wir uns die Festungsruine in der Mitte der Stadt an, oben angekommen fanden wir zwei Polizisten in einem Häuschen aus Weißblech, die sich gerade eine paar Gurken zum Abendessen schälten. DSC02734Toller Ausblick, das war es dann auch. Kurz nach neun betreten wir das „Read-Cafe“ in der Stalin-Allee Nr. 10. Ein angenehmer Platz mit hübscher Einrichtung, man spricht russisch und lächelt uns an. Nachdem wir etwas bestellen und unsere Geräte aufladen konnten, kommt die Inhaberin auf uns zu, fragt nach unserer Nationalität, staunt (Ausländer und speziell Deutsche sind hier nach Schließung der Türen des Museums noch nie gesehen worden) und bittet uns mit einiger Heimlichtuerei ins Obergeschoss. Ich bin skeptisch, laufe aber hinter ihr und Jens die Treppe hoch.DSC02775Oben erwarten mich ein Konferenztisch mit Fahnen verschiedenster Länder, ein kleines, aber professionelles Radiostudio und Computerarbeitsplätze für die Erstellung von Zeitschriften. Sind wir hier beim Widerstand gelandet? Nein, bei Anna, die seit Jahren für eine andere Sicht auf den Konflikt zwischen Georgien, Ossetien und Russland wirbt und für diesen Zweck schon viele Menschen auf der ganzen Welt, bisher jedoch nicht aus Deutschland, werben konnte, leider trotzdem nicht genug, denn das Bild des Georgien-Krieges von 2008 ist, wie ich feststelle, ein sehr einseitiges. Anna selbst scheint eine sehr intelligente, ruhige und zielstrebige Frau zu sein. Das Cafe scheint mir Einnahmequelle, das Radiostudio und die Zeitschriften ihre Profession zu sein. DSC02773Sie will Menschen versöhnen, Mediation ist ein häufig gebrauchtes Wort, Schuldzuweisungen sind von ihr nicht zu hören. Zu ihrer Person bekommen wir nicht viele Informationen, sie ist gebürtige Bulgarin, ihr Mann ist Georgier. Zu Beginn des Krieges sind sie aus einem Dorf in Ossetien in dieses Haus in Gori gezogen. Heute können sie nicht mehr ins Dorf zurück. Dann lächelt sie, das sei genug von ihr, sie will lieber über das Leid, dass anderen Menschen im Georgien-Krieg zustieß, berichten. Aus diesem Grund überreicht sie uns ein Buch, in dem sie die Erlebnisse vieler Menschen mit diesem Konflikt gesammelt hat, über Grenzen und Nationalitäten hinweg. Schade, dass unser Zug gleich fährt, ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und würde am liebsten noch ein paar Tage hierbleiben, aber leider gibt es in dieser Stadt kein Hotel, was um diese Uhrzeit noch geöffnet hat.DSC02776 Also bleibt mir nur eins: Das Buch lesen. Schon nach der ersten Geschichte muss ich absetzen und den Kloß im Hals runterschlucken. Ich hätte diese Sichtweise nicht erwartet, nicht hier, nicht jetzt, und nehme mir vor, nicht nur dieses Buch bis zum Ende zu lesen, sondern es auch ins Deutsche zu übersetzen. Ich denke, das ist nötig. Daher folgt nun, unkommentiert, die Übersetzung der ersten von vielen Geschichten aus dem Buch, dass sich nennt: The Other Picture Of War.

Wer mehr zum Konflikt wissen will, für den lohnt ein erster Einstieg hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kaukasuskrieg_2008

http://de.wikipedia.org/wiki/Südossetien


Der Retter

Er ist mein Freund und ich werde immer für ihn beten

Im August 2008, als der Krieg in Zchinwali wütete, war das Untersuchungsgefängnis der Stadt gefüllt bis auf die letzte Zelle; mehr und mehr friedliche georgische Einwohner wurden dorthin gebracht und gefangengenommen. Man konnte sogar alte Ehepaare unter den Gefangenen erblicken. Während die Frauen noch einen gewissen Eindruck von Stärke vermittelten, konnten viele Männer, besonders die mit Herzerkrankungen, die unerträgliche Hitze, die Gewalt und die Demütigungen kaum ertragen. Luiza Nasuashvili und ihr Ehemann waren ebenfalls in einer der Zellen gefangen.
Das Ende der Kampfhandlungen liegt nun schon eine Weile zurück und sie erinnert sich an ihre Heimatstadt Zchinwali mit Tränen in ihren Augen. Luiza lebte in Zchinwali bis 1991, das Jahr, als erstmals Kampfhandlungen zwischen Georgien und Ossetien stattfanden. Durch diese Situation sah sie sich gezwungen, nach Tamarasheni zu ziehen, aber sie verließ ihre Heimatstadt nicht völlig; sie arbeitete weiterhin als Buchhalterin in einer Fabrik. Anfangs fürchtete sie, man würde sie als Georgierin aufgrund des Konflikts entlassen, aber ihre Ängste wurden nicht bestätigt. Niemand belangte sie in Zchinwali aus diesem Grund.

„Im August 2008 konnte ich mein Haus nicht verlassen. Die Situation war sehr gefährlich für mich, aber wohin sollte ich denn gehen? Ich hatte meinen kranken, schwachen Mann bei mir. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sie die friedliche Bevölkerung nicht überfallen und ausplündern würden. Unglücklicherweise war diese Hoffnung trügerisch und die Situation endete tragisch.
Ossetische Soldaten erreichten unser Haus am 10. August; an einem Stützpunkt nahmen sie meinem Mann und mich mit ins Untersuchungsgefängnis nach Zchinwali. Mein Mann wurde immer schwächer in meinen Armen; durch den Stress und die Anspannung stieg sein Blutdruck rasant an. Es ging ihm schlechter, Stunde für Stunde, wir benötigten unbedingt Medizin für ihn. All meine Versuche waren erfolglos; die Situation dort war so ausweglos, dass ich nicht einmal jemanden um Hilfe bitten konnte. Andere Gefangene waren in noch schlechterer Verfassung. Immer wieder holten sie Menschen aus den Zellen und schlugen sie mehrfach zusammen. Bisher hatten sie uns noch nicht angefasst und hatte ich große Angst, um Medizin zu bitten, da ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Doch als sich die Verfassung meines Mannes weiter verschlechterte und ich um sein Leben fürchten musste, entschied ich, dass es keine Wahl mehr sei, sich zu verstecken. Ich fasste den Entschluss und fragte einen der ossetischen Bewacher nach etwas Medizin. Er schaute mich böse an und schrie: „Vielleicht soll ich ja noch einen Krankenwagen rufen?!“ Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, ich wusste nur, dass mein Mann sterben würde.
Eine Weile später kam derselbe Bewacher auf mich zu und sagte mir in harschem Ton, ich solle mit ihm kommen. Ich folgte ihm aus Angst und brachte kein Wort heraus – doch er gab mir ein Päckchen blutdrucksenkende Mittel. Ich werde mich bis zu meinem Tod an das Gesicht des Mannes erinnern, als er mir die Medikamente gab; er schaute mir nicht in die Augen, hinter einem Checkpoint schrie er mir noch nach, ich solle mich wieder zurück an meinen Platz bewegen. Ich eilte zurück und umarmte meinen Mann. Ich weinte, ich weinte vor Freude und Erleichterung. Mein Mann war gerettet und ich wurde Zeuge von Menschlichkeit im Krieg. Ich war froh, dass der Krieg nicht die Menschlichkeit des Bewachers ausgelöscht hatte – er war nur böse zu mir, um vor seinen Kameraden keinen Verdacht zu erregen. Das Leben meines Ehemanns hing in diesem Moment von seinem Verhalten ab.
Dieser Mann ist mein Freund für alle Zeiten und ich werde weiter für ihn beten. Kannst du dir vorstellen, wie viel mehr Elend auf dieser Welt wäre ohne solche Menschen? Seit diesem Tag denke ich, dass Krieg ein Schmerz für alle Menschen ist.“

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Georgien- Stakkato http://www.hntrlnd.de/?p=819 http://www.hntrlnd.de/?p=819#comments Fri, 16 May 2014 19:38:48 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=819 DSC02498Deutsche Rentner schälen sich in Touristenuniform aus dem Reisebus. Der Musikant beginnt zu spielen, der Reiseleiter animiert zum Tanzen, jeder so, wie er noch kann, verordnete Fröhlichkeit zu Seemannsliedern. Schlange vorm Souvenierstand, Omas betteln. „Urig hier! Wie alt die Kirche wohl sein mag? Ob es hier auch Geckos gibt?“ Der Reiseleiter versteht die Frage nicht, der Fahrer wendet schon mal den Bus, das Panorama entzückt nur am Rande und verschwindet im Zeitplan.

Tbilisi von ganz weit oben

Tbilisi von ganz weit oben

In der Billardbar muss die russischsprachige Mitarbeiterin erst aus dem Keller geholt werden, eine englischsprachige war nicht zu finden. Beim Imbiss helfen nur Hände und Füße, Nicken und Zucken, wir sprechen kein Georgisch, der Koch nichts anderes. Einer mag das dumm finden, ein anderer konsequent. Vor der Bar: Treffen der Halbstarken. Tragen Sonnenbrillen, wenn sie mit Mädchen reden, spucken beim Rauchen, hochgestellter Kragen, Rasierklingen zwischen Armen und Beinen, Sportauspuff oder wenigstens ein Loch im Schalldämpfer, schön durchdrehen lassen, tiefe Stimme, nur in der Erregung nicht. Die Sneakers hat Mutti bezahlt.
Die knöchrigen Hände alter Frauen, Gesichter vermummt aus Scham, drei Hosen übereinander, recken sich bettelnd und zitternd vor Kirchen und teuren Läden zu mir. Ein Schild am Becher beschreibt ihr Schicksal. Bitten wie Gebete. Eine Mutter fleht mit ihrer Tochter auf dem Arm, das Kind ahmt die Mutter nach, ich werde traurig, schaue weg, gebe nichts, wie so oft, wie immer. Eine bucklige, stumme Behinderte kauert in immer derselben Stellung an der Hauswand, ein schwarzer Fleck, wo ihre Haare sind. Wie kommt sie dahin, wie kommt sie wieder weg? Ich vermute ein Geschäft dahinter. Der Hund eines Bettlers hat einen Trinker gebissen, schlagen, treten, schreien, Kleingeld fliegt, der Bettler kann den Hund nicht beschützen, aber er versucht es, er hat sonst niemanden.
Wachdienst, Sicherheitspolizei, Militärpolizei, in Ladas, in Geldtransportern, auf Klapprädern – halbseidene, ununterscheidbare Uniformen; inflationär-unverständlicher Gebrauch von Blaulicht, wenn das nicht hilft – Lautsprecherdurchsage aus dem Auto: „Weg da! Platz da!“
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Der Fußweg gehört den Straßenhändlern, jeder verkauft, was er hat und kann. Taschentücher, Reisig zu Besen gebunden, Tomaten, Gurken, Bananen, Zigaretten, Fliesen, Ikonen, Brot, Second Hand. In Läden arbeitet entweder keiner oder gleich fünf Leute mit nebulösem Tätigkeitsbereich. Viele haben keine Arbeit, alle ein Handy. Der schwere, schwarze Rock der Frau, die eigentlich nur aus Arsch und Oberlippenbart besteht, lässt keinen Blick auf das Darunter zu, wenn sie auf einem kleinen Hocker auf dem Fußweg breitbeinig und lautstark ihre Waren anpreist. Schöne Waren feil, schöne Waren feil!
Reiche Menschen dick und blass, so auch ihre Kinder. Viel PS, viel AMG, OPC, M, TT, viel YSL; schöne Frauen Arm in Arm mit ihrem dicken Mann, hässliche ein Stück dahinter.  McDonalds-Tüten als Statussymbol. Arme Menschen gebräunt, von Geburt an oder durch Arbeit im Freien. Karrenschieber, Bauern, Tagelöhner, Kartenspieler, Straßenfeger, Betrunkene schreien liegend im Dreck, verwirrte Gläubige spucken auf Mädchen mit kurzem Rock. Die „Mitte“ sieht zu, dass sie vom Wahnsinn nicht verschlungen wird. Beschiss an jeder Ecke, Touristen kommen eh nicht wieder, geraucht wird überall und ab 12 Jahren, feste Preise Fehlanzeige, alles rausholen was geht.
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Zusammenbruch, der Chaos schaffte und eine selbstbestimmte Gesellschaft formt, die fast jedem Versuch staatlicher Regulierung widersteht, Normen müssen noch entstehen. Vielleicht sehe ich sie nur nicht. Oder sind sie überflüssig? Hupen statt Ampeln, Drängeln statt Regeln, Verbrennen statt recyceln, Gebell statt Alarmanlagen, Fußgängerüberwege und Parkordnung als täglicher Sarkasmus, Bekreuzigen vorm Straßenwechsel. Märkte in Kirchen, Beete in Ruinen, Wohnungen in Fabriken. Dazwischen glänzender Neubau. Oder nichts. Jeder denkt an sich, ohne dem anderen böses zu wollen.
Eine Regierung, die nicht verhindern kann, dass die Grenzen zu Russland mal wieder ein paar Dörfer weit zu ihren Ungunsten verschoben wurden – keine Landkarte kommt da noch mit. Beschiss beim European Song Contest. Ossetien und Abchasien sind schon weg, ein vergessener Krieg, viel Leid wird ignoriert, was bringt es auch?

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Mesrop, der Fischer http://www.hntrlnd.de/?p=781 http://www.hntrlnd.de/?p=781#comments Tue, 13 May 2014 18:40:10 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=781 mesrop_1Das ist Mesrop. Scheinbar kennt er jeden Einwohner seiner Stadt, in jedem Fall aber winken ihm, als er mit uns in seinem 28 Jahre alten Lada Niva durch Garni in Armenien fährt, nahezu alle männlichen und auch einige weibliche Passanten zu und er grüßt mittels wirklich lässiger Handbewegung zurück. Wenn er gerade eine Zigarette raucht und dabei telefoniert, und er raucht und telefoniert in den zwei Stunden unserer gemeinsamen Reise sehr oft, nickt er ebenso lässig wie freundlich aus dem offenen Fenster und ließe mit der Glaubwürdigkeit seiner Gesten jedes Politbüromitglied vor Neid erblassen. Ich habe das Gefühl, wir fahren gerade beim inoffiziellen Bürgermeister mit. Oder wenigstens beim Chef der Feuerwehr. Um überhaupt von Jerewan nach Garni zu kommen, kann man für die 40 Kilometer ein Taxi für sechs Euro nehmen. Oder man beginnt die Reise mit der Buslinie 44 an der Oper in Jerewan. Der Bus kostet wie alle Busse den Festpreis von 20 Cent pro Fahrt, egal, wie weit sie geht. Mir gefällt dieses System. Nach 20 Minuten Fahrt dann Aussteigen an der zentralen Haltestelle der Marschrutnajas in Richtung Garni. Auf dem neben-gelegenen Rynok werden allerlei Bauernprodukte feilgeboten, wir entscheiden uns für den Kaffee, den der Kaffeemühlenbediener laut eigener Aussage selbst trinkt. KaffeemühleSein Kollege stellt sich hinter uns, formt die Hand zu einer Pistole und ruft: „I’m a robber!“. Ich drehe mich um, schaue ihn böse an und er lacht. Die Marschrutnaja nach Garni hat offiziell Platz für 13 Personen und fährt ab, als 22 Passagiere samt Gepäck Platz gefunden haben. Rechts von mir schwitzt der fette Oberarm der Oma mit den Blumen auf dem Schoß mein T-Shirt voll, der kleine Junge links von mir niest mir auf die Hose – wo soll er denn auch sonst hin niesen, sagt mir der Blick der Mutter, auf deren Schoß er sitzt. Ich lasse es mit mir geschehen und schwanke mit im Takt von Schlaglöchern, Serpentinen, kaputten Stoßdämpfern und russischer Popmusik. Eine Fahrt kostet 60 Cent. Mesrop gabelt uns auf, als wir gerade den Tempel von Garni verlassen (der bis auf den Filmdreh fürs russische TV und der beeindruckenden Umgebung recht belanglos war) und erklärt uns mit ruhiger, aber umso unwiderstehlicher und fester Stimme, dass unsere weitere Tour an diesem Tag nur dann wirklich gut werden könne, wenn wir für 6000 armenische Dingsda, ca. 12 Euro, bei ihm einstiegen. Wir hatten zwar vor, die Sache zu Fuß zu erledigen; aber ein paare Blicke auf die Karte, die Umgebung, in der es keine einzige Ebene zu geben scheint, unser Schuhwerk sowie seine überzeugenden Argumente lassen uns keine andere Wahl.
Mesrop_2Er ist wohlgebräunt, sein Händedruck der eines Menschen, der schon viele Hände geschüttelt hat, sein Blick forsch. Mit seinen 58 Jahren sieht er keinen Tag jünger aus, jedoch auch keinen Tag älter, seine Statur ist gerade und kräftig und er erinnert mich damit ein klein wenig an meinen Vater; sein Bauch und das gefälschte Fred Perry- Poloshirt gehen eine besondere Kombination ein. Sein erstaunlich gepflegter Lada Niva hält auf den ersten Blick einer TÜV-Prüfung stand, lediglich die 40-Kilo-Gasflasche im Kofferraum, vor der ich auf dem Rücksitz Platz nehme, ist recht zerbeult und rostig. Darüber hängt, von innen an der Kofferraumklappe befestigt, ein Duftbaum mit der Flagge der USA. Er bietet uns Zigaretten an, Jens sagt ja, ich nein. Ich will nicht auf den Boden aschen müssen, ich warte lieber noch ein wenig.
Die Tour führt dann wortwörtlich über Stock und Stein, kein anderer Wagen würde diese Strecke meistern außer dieser eine. Nach seiner Meinung über den neuen Niva gefragt, lacht er, zündet sich eine Zigarette an, zieht den Rauch tief ein uns sagt, man könne ihm gern drei von den Dingern vor die Tür stellen, er würde nicht gegen seinen tauschen. Dieser alte Niva sei kräftig, die neuen Nivas Luschen. Auch wenn er bergauf ständig den Choke zieht.DSC02012
Zum Ende der Tour meint er, wir müssten doch hungrig sein, er kenne da das beste Restaurant des Ortes, zu dem er uns auch führt und sich mit uns an den Personaltisch setzt. Die Kellnerin ist nicht erfreut, dass er ihr Arbeit bringt, denn sie verköstigt gerade eine Taufgesellschaft und scheint damit ausreichend beschäftigt. Wie wir erkennen, ist das tatsächlich kein schlechtes Restaurant und es stellt sich heraus, dass die Kellnerin seine Frau ist. Geschmeckt hat es trotzdem, es gab Schawarma und Limonade, die Tour war spitze und wir sind glücklich, einem armenischen Individualtouristenfänger ins Netz gegangen zu sein. Russischer Filmdreh Man könnte denken, es sei unecht Das Bild macht jeder Jens' neue Freunde Überholmanöver erfolgreich Jens hat das Taschentuch, das er vor 28 Jahren h Eine Busladung passt rein Armenische Landschaft, russische Hipster

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Zori braucht Schlaf http://www.hntrlnd.de/?p=753 http://www.hntrlnd.de/?p=753#comments Sat, 10 May 2014 06:00:06 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=753 Zori ist oft etwas müde

Zori ist oft etwas müde

Das ist Zori. Gestern, am Abend des 9. Mai, dem Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland und dem Feiertag der Befreiung der Exklave Nagorny-Karabach, genauer gesagt der Stadt Schuscha, die bis 1992 von Aserbaidschan besetzt war, hat er uns Wein gebracht und Kuchen und hat dazu mit seiner glockenhellen Stimme zwei unglaublich traurige, armenische Volkslieder angestimmt. Er ist 23 Jahre alt und übernimmt sechs Tage in der Woche die Nachtschicht in dem Hostel in Jerewan, in dem wir für ein paar Tage wohnen. Er kommt abends um acht und geht zwölf Stunden später. Zwischendurch versucht er, ein wenig Schlaf auf der Couch im Gemeinschaftsraum zu bekommen, denn am Tag arbeitet er von neun bis sieben in einer Tischlerei, die sich auf Fahrzeug- Innenausbauten spezialisiert hat. Die einzige Freizeit, die er hat, ist der Sonntag, aber da schläft er eigentlich nur. Einmal im Monat schafft er es, in die Kirche zu gehen und zu beten. Zori spricht sehr gut deutsch, denn das hat er in der Schule gehabt und danach an einer Universität studiert. Dazu spricht er armenisch, russisch und ein wenig englisch. Sein älterer Bruder lebt in Deutschland, aber als ich ihn frage, ob er nicht lieber bei seinem Bruder leben möchte, verneint er mit einem Seufzen, denn einer muss sich doch um die Eltern kümmern, die ein paar Kilometer außerhalb Jerewans leben, schon sehr alt sind und Hilfe benötigen. Deswegen muss Zori auch soviel arbeiten. Seine Freundin, die in einer anderen Stadt wohnt, hat Zori deshalb schon seit fünf Monaten nicht mehr gesehen, Telefonate müssen reichen. Wieder ein kleiner Seufzer. Wie lange das so weitergeht? Zori weiß es nicht, aber er will unbedingt Polizist werden, dann hätte er gute Arbeitszeiten, einen vernünftigen Lohn, könnte seine Freundin heiraten, ein normales Leben führen und endlich mal wieder lange schlafen.

Zori wurde für kurze Zeit unser Freund

Zori wurde für kurze Zeit unser Freund

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