hntrlnd » Deschurnaja http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Kharkov – Sochi http://www.hntrlnd.de/?p=606 http://www.hntrlnd.de/?p=606#comments Fri, 02 May 2014 08:03:55 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=606 Zug und Nacht und Rostov

Zug und Nacht und Rostov

Von Kharkov nach Rostov am Don, platzkartnui Wagon. Die Tickets kosten für die ganze Strecke bis Sochi nicht um die fünfzehn, sondern siebzig Euro pro Person. Die Abteile sind eng, keine Türen zum Abschließen. Den Raum, auf dem im Coupe vier Fahrgäste liegen, teilen sich hier sechs Leute. Noch weniger Privatsphäre und diesmal keine schöne Ukrainerin in Sichtweite. Der Wagon auf der Zugstrecke Minsk – Sochi ist sauber, die Mitfahrenden sind verschlafen, die Liegen bereits runtergeklappt. Der Ein- und Ausstieg, in welchem man raucht, ist wieder mit Aschenbechern ausgestattet. Ein Schild weist darauf hin, dass auf der Durchfahrt durch die Ukraine nicht geraucht werden darf: Altbekannte Prozedur, die Durchgangstür zum nächsten Wagon öffnen und zwischen den Wagons auf die Schienen aschen.

Ukraine und Landschaft und Gleise

Ukraine und Landschaft und Gleise

Fünf Tage vor Abfahrt waren wir auf dem Kharkover Bahnhof, um die Tickets zu kaufen. Wir hatten nicht an Wuichodnuie gedacht, für welche die freien Tage um den ersten Mai herum gerne genutzt werden, außerdem hatten wir uns blenden lassen von Statistiken, welche besagten, dass der Ticketkauf Richtung Krim und Russland um dreißig Prozent zurückgegangen sei. Auf dem Weg zum Fahrkartenschalter wurde ich von jemanden in Zivil angehalten, er zeigte ein Dokument, welches ihn wahrscheinlich als Polizisten auswies, ein uniformierter Polizist stand neben ihm. Er fragte mich, was ich hier wolle, wo ich hin will und woher ich komme. Also zeigte ich meinen Pass und sagte was von Deutschland und Urlaub und Sochi, wie immer wurden aufmerksam und interessiert die Visa durchgeblättert, ich bekam den Pass ohne weitere Nachfrage zurück. Diese Begebenheit vermittelte mir einen weiteren Eindruck von der Nervosität der ukrainischen Behörden. Am Fahrkartenschalter wurde uns schnell mitgeteilt, dass es keine Tickets mehr gäbe, weder für den Zug Minsk – Sochi, noch für den Zug Moskau – Sochi. Wir waren erschüttert. “Na, da muss es doch eine Möglichkeit geben”, murmelte die Angestellte am Schalter für internationale Gäste in fließendem Englisch und tippte lange und konzentriert auf der Tastatur. “Das ist möglich” sagte sie dann, während sich bereits Schweißperlen auf unserer Stirn bildeten. “Ihr bekommt Platzkarten für den Zug Minsk – Sochi, fahrt bis Rostov, zwei Stunden später steigt ihr in den Zug Moskau – Sochi, wieder mit Platzkarten.” “Perfekt,” rief ich “machen wir so.” In meiner Euphorie fragte ich mal wieder, ob ich ein Foto von ihr machen dürfe. Sie freute sich: “Gerne, doch hier dürfen keine Fotos gemacht werden.” “Das sieht doch keiner.” sagte ich. “Doch die Kameras.” grinste sie, ihr Zeigefinger hob sich von der Tastatur ein wenig zur Seite hin.

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Jetzt sitzen wir also im Minsk-Sochi Zug und bekommen Waren feilgeboten, laut werden Vorzüge und günstige Preise vorgetragen, Schlafende sind egal. Folgende Liste beschreibt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Sortiment: Blumenvasen, mit Blumenmuster, oder ohne, vergoldet, oder nicht, Kinderbuntstiftsets, Walnüsse, Milch, andere Nüsse, einen Meter hohe Vasen (das Angebot entspricht wirklich dem eines gut aufgeräumten Vasenladens), Käse, karierte Taschen voll Zeug, Brot, Brennholz, Bier, Besteck und das beste Gebäck überhaupt, wenn man der Verkäuferin glauben mag.
Die ukrainische Landschaft fährt am Fenster vorbei, die Bäume blühen, mehr Birkenwäldchen, also fahren wir in die richtige Richtung. Nach vier Stunden Fahrt werde ich bereits das zweite Mal von Polizisten kontrolliert. Sie entdecken mich, als ich durch das Türfenster der Raucherecke Fotos von vorbeifahrender Natur mache. Wir fahren zwar durchs Donezk-Gebiet, aber von einem fahrenden Zug aus sind keine Besonderheiten zu entdecken. Eine Straßensperre aus alten Reifen bekomme ich nicht rechtzeitig in den Fokus.

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

“Gehörst Du zu dem Wagon?” fragt mich der eine Polizist “Ja”. “Hast Du Drogen dabei?” fragt der zweite. “Nein, keine Drogen.” “Wo kommst Du her?” “Aus Deutschland.” “Alleine unterwegs?” “Mit einem Freund.” “Kommt ihr aus Weißrussland?” “Nein, aus der Ukraine.” “Aha, was habt ihr hier gemacht?” “Urlaub?” “Zeige Deine Dokumente!”. Also gehen wir zu den Liegen. “Hast Du ein Telefon dabei?” “Ja, aber das Akku ist alle.” “Zeige es trotzdem!” Er schaltet es ein und klickt wild durch die Apps, findet Fotos, dann geht das Handy wieder aus, Dirks Handy wird auch durchgeklickt. Ich habe die ganze Zeit den Fotoapparat in der Hand, dessen Aufnahmen wohl relevanter wären, aber dieser interessiert die beiden Polizisten scheinbar nicht mehr, sie haben wohl nicht genug Indizien für irgendwas gefunden, stattdessen werden willkürlich noch ein paar andere Passagiere kontrolliert.
Die Grenzkontrollen verlaufen dann auf beiden Seiten schnell. Interessant ist vielleicht, dass die ukrainischen Zöllner bereits fünfzig Kilometer vor der Grenze den Zug kontrollieren. Die Russen blättern direkt an der Grenze durch unsere Visa.
Rostov am Don – schicker Bahnübergang, viele Sitze in großen Wartesälen, vereinzelt schlafen Wartende.
Der nächste Zug kommt auf die Minute pünktlich. Wieder ein platzkartnui Wagon, diesmal neuester russischer Hightech. Ein kleines Schildchen informiert darüber, dass wir in einem Glückswagon mitfahren, ein Passagier hat auf Platz soundso gesessen und 500000 Rubel gewonnen, weshalb es sich durchaus lohnt, an der Bahnlotterie teilzunehmen. Wir finden nach längerer Suche unsere Liegen. Alle schlafen. Am Morgen zeigt sich das Manko der eng besetzten Nachtzüge. Die morgendliche Routine ermöglicht es nicht, sich nicht ständig gegenseitig auf die Füße zu treten. Dicht an dicht drängen sich Passagiere durch den engen Gang aneinander vorbei.
Es gelingt mir immer noch nicht, dem Gespräch zwischen Russen sinngemäß zu folgen, zu schnell, zu viel neu, die Sprache hat sich verändert. Eine schöne Russin zieht kurz vor Sochi eine Jeansjacke an. Steht ihr nicht. Tolle dunkelbraune Augen.

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Ich frage die Deschurnaja, ob sie uns bis Adler weiterfahren lässt, obwohl wir doch nur Tickets bis Sochi gekauft haben. Sie grinst kurz und macht dann wieder ein ernstes Gesicht “Das entscheide ich in Sochi, ich sage dann Bescheid” Auf weitere fragende Blicke meinerseits antwortet sie bis Sochi mit besonders ausdrucksstarker Ignoranz. Am Bahnhof schaue ich von der Wagontür aus kurz auf den Bahnsteig und zu ihr. Ihr Handwink vermittelt, dass die Fahrt eine Station weiter klar geht. Der Zug kommt auf die Minute pünktlich an. Gerne lässt sich unsere Deschurnaja vor ihrem Wagon fotografieren. Adler, Olympiapark, Palmen, Schwarzes Meer.

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Odessa – Kharkov http://www.hntrlnd.de/?p=477 http://www.hntrlnd.de/?p=477#comments Wed, 23 Apr 2014 21:48:16 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=477 Deschurnaja

Deschurnaja

“Junge, bleib stehen!” kreischt es aus einem kleinen Fenster am Eingang des Wartesaals. Ich registriere erst gar nicht, dass ich gemeint sein könnte. Ich drehe mich doch Richtung Fenster, als das Kreischen lauter wird.
Eine schätzungsweise Ende Vierzigjährige Deschurnaja mit hartem Blick, mit strahlend rotem Stift geschminkten, schmalen Lippen mustert mich: “Zeigen sie mir ihre Fahrkarte!” “Zeige ich Ihnen” sage ich “Die Fahrkarte ist da hinten im Wartesaal.” Ich zeige auf unsere Rucksäcke, sie verdreht die Augen. Also komme ich mit meiner Fahrkarte von unseren Sitzen zurück, sie nimmt diese kurz in die Hand und gibt sie mir dann sofort wieder: “Sie müssen die Karte vorzeigen, wenn sie den Wartesaal besuchen wollen!” sagt sie in spitzem Ton.  Seltsam, dass sie uns nicht bemerkte in den letzten zwei Stunden. Natürlich hatte ich in der  Zeit mehrmals den Raum verlassen, um eine Zigarette zu rauchen und um Dinge für die Zugfahrt zu kaufen. “Entschuldigen sie, das wusste ich nicht.” sage ich in dem Ton, den ich für den richtigen halte, gegenüber einer höhergestellten und Macht besitzenden Person. “Das sollten sie aber wissen!” antwortet sie. “Jetzt weiß ich es ja!” belle ich dann doch zurück und drehe mich mitsamt der Fahrkarte weg von ihr und hin zu unseren Rucksäcken.
Als wir uns Richtung Zug begeben, sage ich zu ihr, dass ich es wirklich nicht mitbekommen habe, dass man erst seine Fahrkarte zeigen müsse, um den Wartesaal zu betreten und frage sie, ob ich ein Foto von ihr machen könnte. “Natürlich können sie Fotos von unserem schönen Bahnhof machen.” antwortet sie lächelnd. “Nein” sage ich “Ich würde gern ein Foto von Ihnen machen und Ihrem Arbeitsplatz.” “Aber warum?” fragt sie “Was ist denn der Sinn?” “Nun, ich will es dokumentieren.” sage ich “Nur für Ihre Freunde?” fragt sie. “Ja genau,” antworte ich “es geht ja auch ganz schnell”.  Sie will noch kontern und sagt etwas über den kleinen Raum und dass es doch nicht angemessen sei, aber da mache ich schon das Foto. Ich zeige es ihr “Gar nicht mal so schlecht.” kommentiere ich, sie lächelt und winkt zum Abschied.

Bahnsteig Odessa

Bahnsteig Odessa

Die Zugfahrt nach Kharkov ist Anfangs von verständigenden Blicken zwischen Dirk und mir geprägt. Das Vierer-Abteil besetzen wir wieder auf den oberen beiden Liegen. Zwei Frauen begleiten uns auf den unteren Liegen, auf dem 700 Kilometer langen Weg.
Während die eine, schätzungsweise Siebzehnjährige, vor sich hintechnisiert mit I-Pad und Kopfhörern, sitzt dort auch die Mitte Zwanzigjährige Schönheit, deren Konterfei wir vielleicht schon auf Straßen begegneten, aber welche bisher nicht in unserem Zugabteil saß. Also male ich schlechte Zeichnungen mit Kugelschreiber, ich will sie auch fotografieren, sie ist sofort mit der Hand dazwischen, mein Fotoapparat ist einer der schnellsten, aber nicht schnell genug für die Reaktionszeit ihrer Hand, die sich vor das Objektiv legt.
Nach ihrem Mathematikstudium studiert sie nun Sport in Kharkov. Bringt das Geld? Nein. Wieviel verdient man im Fitnessstudio? 100 Euro monatlich, in der Verwaltung, die ist besser bezahlt, als eigentliches Fitnesstraining. Was denkt sie über Deutschland? Gutes Sozialsystem, gute Autobahnen, gute Autos. Was denkt sie über die Ukraine? Nichts Politisches, bitte. Nichts, was man selbst noch nicht einzuordnen vermag. Sie nimmt sich gerne Zeit für uns, obwohl sie eigentlich über den Zetteln sitzt für die Abschlussprüfung. Wir versuchen es zu registrieren und sie nicht  zu sehr zu stören, wenn sie nicht gerade eine Lernpause macht und sich für uns und die Reise interessiert.

zugbekanntschaft

Ich habe nicht mal nach ihrem Namen gefragt

Als ich Bilder von unserer bisherigen Reise zeige, drehe ich unbemerkt einen kurzen Film, aus dem ich ein schlechtes Bild für diesen Artikel ziehen kann: Verliebt sein geht schnell. Was dann mein Problem ist . Und sie bleibt schnell, umarmt mich zum Abschied, als ich es nicht mehr erwarte: “Good  luck” sagt sie. “Bye” sage ich und wollte ihr doch so viel mehr sagen können. Manchmal ist man dümmer und verschüchterter, als man es sich jemals eingestanden hat.

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Lviv – Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=334 http://www.hntrlnd.de/?p=334#comments Sat, 19 Apr 2014 16:50:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=334 lviv-odessa_1Mein neues Lieblingsgetränk: Zugtee mit zweimal Zucker für 3 Griwna. In der Nacht halb eins sitze ich auf dem Klappsitz im Gang, weil es im Abteil zu heiß ist und ich nicht schlafen kann. Zudem schnarcht Jens wegen der Wodkaverkostung in der Dämmerung und unsere Abteilbegleitung besteht aus einer depressiv dreinschauenden Mutter mit ihrem stillen Sohn, die beide keine Gesprächspartner abgeben. Draußen ziehen im Dunkel Felder, Industrieanlagen und verlassen wirkende Dörfer vorbei, bis Odessa sind es jetzt noch sieben Stunden. Mein Tee zieht seit drei Minuten, ich bin allein, alles schläft, nur die Deshurnaja ist noch wach und sortiert in ihrem Abteil leise murmelnd die Tickets, die sie beim Losfahren eingesammelt und gegen frische und vor Stärke raschelnde Bettwäsche getauscht hat.

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Bahnhof Lviv

Ein Ukrainer in meinem Alter mit kräftigem Kinn und umso kräftigeren Nackenmuskeln, die seinen Haltungsschaden zu kompensieren suchen, der erst recht sichtbar wird, als er in der typischen, osteuropäischen Zugkleidung vor sein Abteil tritt: Unterhemd, Jogginghose, Adiletten. In letzteren zeigen sich seine geschundenen und krummen Zehen; ich bin kein Orthopäde, aber der Mann arbeitet sicher hart und geht nicht zum Betriebsarzt.
Ein Abteil weiter das Gegenstück; der semi-östrogene Ukrainer mit fliehendem Kinn. Alles scheint weich an ihm, auch sein Blick, der mich oft schüchtern streift und den er ins dunkle Nichts vor dem Zugfenster wendet, sobald ich ihn erwidere. Hinter seiner randlosen Brille schauen schlaue Augen, die und seine Haltung, Hände und Körpermitte verraten eine eher sitzende Tätigkeit.

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Um sechs ist meine Nacht zu Ende. Noch zwei Stunden. Draußen Soldaten, die im Morgentau rauchend auf ihren Zug zur Kaserne warten. Hunde, die anderer Hunde Kadaver verspeisen. Sporttaschenträger, die in Vororten aussteigen. Aus dem Nachbarabteil kommt ein Herr, dessen Anzug und Krawatte die Nacht ohne eine Falte überstanden haben, im Gegenteil zu meinem Gesicht. Die Deshurnaja schreit etwas auf den Bahnsteig, während sie sich fluchend Reste des heißen Wassers für meinen dritten Tee über die Uniform kippt. Vom Bahnsteig schreit jemand zurück und die Fahrt geht weiter.
Auch hier gilt wieder: Wer fragt, ob was erlaubt ist, ist der Dumme. So geht’s Jens, als er zwischen zwei Wagons mal eine rauchen will. Als er eine Stunde später einfach so eine rauchen geht, stellt sich der betrunkene Schaffner zu ihm und verteidigt ihn gegen unsere Deshurnaja, die sowas nicht gern sieht, aber was solls, der Schaffner machts ja auch.

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