hntrlnd » Lenin http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Wolgograd http://www.hntrlnd.de/?p=1050 http://www.hntrlnd.de/?p=1050#comments Wed, 25 Jun 2014 04:06:26 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1050 Flaniermeile, eindeutig in Russland

Flaniermeile, eindeutig in Russland

Der Zug fährt eine dreiviertel Stunde durch die Stadt, bis er am Bahnhof ankommt. Wolgograd zieht sich an der Wolga in die Länge. Unser Hostel ist einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und liegt im absoluten Zentrum, in der fünften Etage eines Hochhauses an der „Straße der Helden“. Von hier aus ist der Prunk der sozialistischen Architektur und auch die Erinnerung an den großen Vaterländischen nur einige Schritte entfernt.

Das Stalingradmuseum

Das Stalingradmuseum

Die Frauen sind selten aufgetakelt, sie spazieren über die Straßen leger gekleidet, selten hochhackig. Es herrscht eine freundschaftliche Stimmung, Bekannte umarmen sich innig und lange. Überhaupt scheint es den Bürgern, genauso wie der Stadt gut zu gehen. Selbst Verkäuferinnen sind freundlich und leisten sich höfliche Floskeln. Ein Eindruck, den man in Russland sonst selten bekommt. Vielleicht ist das gute Wetter schuld, oder die überstandene Mückenplage. Tagelang wollte kein Wolgograder auf die Straße gehen, denn er stand sofort in einer schwarzen Wolke von Mücken, die sich in diesem Jahr besonders gut am Fluss entwickeln konnten. Jetzt sind Abends immer noch Mücken da, aber es lässt sich wieder schlendern.

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Ausserdem bekommen wir ja wieder nur einen kurzen Eindruck. In drei Tagen kann man keine Stadt so kennenlernen, wie sie sich im Alltag darstellt. Ganz im Gegenteil, wenn wir uns endlich soweit zurechtfinden, dass wir uns auch ohne Stadtplan um einige Ecken trauen, dann reisen wir auch schon wieder ab.
Der Eingang zum Museum Panzer und Klettergerüst heroisch ... ... und stark bewaffnet

Lenin haben wir in Wolgograd gefunden. Erst einmal war er nur im Souvenirshop des Stalingradmuseums zu finden, hier geht es in chronologischer Raumaufteilung eher um die Zeit der Belagerung durch die Nazis, da war Lenin schon tot. Allerdings kann man aus dem Stadtzentrum raus fahren, zum Beispiel eine Dreiviertel Stunde mit der Elektritschka, in Richtung des Wolga-Don-Kanals.

Lenin monumental

Lenin monumental

Dort wurde zum Anlass der Fertigstellung des Kanals das größte Stalindenkmal der Welt errichtet. Es stand dort 12 Jahre. 2 Tage nach der Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd wurde es abgerissen. Mitte der Siebziger Jahre wurde auf den immer noch vorhandenen Sockel eine ähnlich große Leninstatue gestellt. Die Wolgograder sagen: „Eigentlich wurde nur Stalins Kopf ab- und Lenins Kopf raufgeschraubt.“

Lenin geht

Lenin geht

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Dekadenz http://www.hntrlnd.de/?p=982 http://www.hntrlnd.de/?p=982#comments Wed, 11 Jun 2014 17:28:41 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=982 So viel Platz war noch nie

So viel Platz war noch nie

Den Busbahnhof in Bischkek kennen wir. Spätestens mit unseren großen Rucksäcken können wir nicht mehr den Taxi-Anbietern entfliehen, die einen innerhalb von Sekunden belagern. „Taxi, Taxi, Taxi“ ist der Kanon, in welchen auf allen Seiten eingestimmt wird. Ich möchte antworten: „Du suchst ein Taxi? Warum fragst Du mich? Hier stehen doch ganz offensichtlich genug herum.“ Wir versuchen vor dem Gesang zu fliehen um wenigstens noch eine Zigarette zu rauchen und vielleicht herauszubekommen, wo die Marschrutkas stehen, welche uns nach Almaty bringen. Auch in der hintersten Ecke des Busbahnhofs haben wir nur eine halbe Zigarettenlänge lang Ruhe.

Bischkek Busbahnhof

Bischkek Busbahnhof

Die folgenden Angebote sind geprägt von Hektik und Argumenten. Ich unterbreche die Drückerkolonne in ihrem Redefluss und sage: „Wir wollen einen Platz in einer Marschrutka nach Almaty. Wir würden auch etwas mehr bezahlen. Wichtig ist uns, das wir genügend Platz haben, also dass nicht mehr Leute im Bus sind, als Sitze. Außerdem möchten wir schnell über die Grenze nach Kasachstan kommen und nicht lange im Stau stehen.“
„Also viel Platz wollt ihr, Komfort, dann habe ich hier ein Taxi für Euch, 3000 SOM“ Also 40 Euro würde uns das Taxi kosten. „Aber an der Grenze müsst ihr warten“ sagt ein Anderer „Ich habe ein besseres Angebot. In den nächsten Stunden fahren keine Marschrutkas. …“ Die Busse fahren erst los, wenn sie voll besetzt sind und es dauert lange bis genug Passagiere nach Almaty gesammelt wurden. „… Ihr bekommt eine Marschrutka ganz für Euch alleine, die muss an der Grenze nicht anstehen, 5000 SOM“ Also 70 Euro für die 300 Kilometer.

Auf Wiedersehen Kirgistan

Auf Wiedersehen Kirgistan

„Das ist uns zu teuer.“ antworte ich. „Na los, 4500 SOM. Eine Marschrutka nur für Euch. Hat sogar Fernseher.“ Er schiebt uns Richtung Bus. So kurz wie möglich und so gut ich kann übersetze ich für Dirk, zu was für Konditionen wir den dekadentesten Grenzübertritt unserer Reise bekommen würden. Mit einigem Gedränge der Verkäufer und einsetzenden Bauchschmerzen entscheiden wir uns dafür. Der Bus ist mit den besten Sitzen ausgestattet, die wir jemals in einer Marschrutka gesehen haben. Wie immer in Kirgistan ist es kein GAZ, ein Lizenzbau des Ford Transit, sondern ein schätzungsweise 8 Jahre alter Mercedes Transporter, perfekt runderneuert und ausgebaut. Es gibt wirklich einen ausklappbaren großen Bildschirm, aber der interessiert uns nicht. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass Zweie diesen Zwanzigsitzer alleine besetzen, die Schlafmöglichkeit auf der hintersten Sitzbank ist trotzdem verlockend. Ich sage zu unserem Busanbieter, wir wollen zwar schnell los, aber falls doch noch weitere Fahrgäste auftauchen, sollen sie bitte mit in dem Bus fahren. „Nein.“ sagt er „Der ist nun Euer, ihr fahrt jetzt los.“

Alep und Alia

Alep und Alia

Kurz bevor wir den Busbahnhof verlassen haben, rennt er uns hinterher, winkt dabei zu mir und nicht zum Fahrer, er hätte da noch zwei Mitfahrer, ob wir sie mitnehmen würden. Ich sage „Ja, natürlich.“ und versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ein altes Ehepaar steigt dazu, er kassiert ihre 800 SOM. „Aber das dauert ja noch?“ fragt die Oma „der Bus ist ja noch leer“. „Nein,“ er lächelt die beiden an „die beiden Touristen haben sich einen ganzen Palast gemietet.“ „Achthundert kostet es die beiden?“ mische ich mich ins Gespräch ein „Also vierhundert für uns.“ grinse dabei aber zu offensiv über die eigene Kaltschnäuzigkeit. „Aber was denn, der Bus ist doch 7000 wert!“ antwortet er leicht angesäuert, gibt dem Fahrer dessen Anteil und sagt zu ihm „Hörst Du, wie er verhandelt? Du sammelst keine weiteren Mitfahrer ein, einfach durchfahren!“. Darauf wollte ich ja nicht hinaus, ich wollte den Palastpreis drücken, der eigentlich viel zu hoch ist. Einmal schlecht verhandelt bedeutet in unserem Falle teuer bezahlt. Dabei bleibts.

Dirk und das Lenindenkmal in Leninskoje

Dirk und das Lenindenkmal in Leninskoje

Kurz vor der Grenze bemerken wir das Ortseingangsschild „Leninskoje“. „Hast Du ein Foto gemacht?“ fragt Dirk. „Nicht rechtzeitig bemerkt“ erwidere ich, frage aber den Fahrer: „Wir sind doch jetzt im Ort Leninskoje. Gibt es da nicht vielleicht ein Lenindenkmal?“ „Keine Ahnung.“ antwortet er, ist aber sofort am telefonieren. Er fährt langsamer und findet die recht kleine, vergoldete Leninstatue. Sie steht in einem Park, dessen Pflanzenbestand einigermaßen gepflegt ist. Jedoch das Gebäude hinter dem Denkmal wurde garantiert seit 25 Jahren keiner Sanierungsmaßnahme ausgesetzt. Es darf langsam und kontinuierlich zerfallen. Der Bus hält und wir fotografieren uns gegenseitig, wie es solche seltsamen Touristen eben tun, die einen Leninfaible haben und sich einen ganzen Bus mieten. Das Rentnerehepaar guckt nur entgeistert, als ich mich zu ihnen drehe und „Entschuldigt bitte die Unterbrechung“ sage.

Ein Bus parkt in Leninskoje

Ein Bus parkt in Leninskoje

„Wissen Sie,“ sage ich später zu Alia, der Oma „ein mal im Leben sollte man eine ganze Marschrutka nur für sich alleine gemietet haben.“ „Das ist doch viel zu teuer!“ entgegnet Alep, der Opa leicht verärgert, lacht dann aber doch mit, als ich sage, so hätten wir das bestimmt nicht geplant gehabt.
Die Grenzkontrolle verläuft ausreichend schnell, wir spazieren mit Gepäck und Pässen und schneller Kontrolle durch die kirgisischen Grenzerhäuschen. Dann entdecke ich Alep, der sich suchend und verunsichert im Vorraum der kasachischen Grenze umsieht. „Meine Frau ist weg.“ sagt er „Gerade sind wir noch zusammen gegangen und jetzt finde ich sie nicht mehr.“ Ich sage ihm, dass ich sie auch nicht gesehen habe. „Aber sie hat doch auch meinen Pass.“ stellt er fest.

Zwischen den Grenzkontrollen kann man sich verlieren

Zwischen den Grenzkontrollen kann man sich verlieren

Ein kasachischer Polizist möchte ihn zur Kontrolle leiten. „Sein Pass ist bei seiner Frau.“ sage ich zum Polizisten. „Ja, bei der Kontrolle muss jeder seinen Pass bei sich haben.“ entgegnet er. Das Tonband in seinem Kopf wurde eingeschaltet, es gibt die aufgenommenen, unabänderlichen Worte wieder. „Sie müssen ihm doch helfen können?“ frage ich, während mich der Grenzer im Kontrollhäuschen darauf hinweist, dass ich bitte in die Kamera gucken soll. „Falls sie schon durch die Kontrolle ist und Sie sie sehen, geben Sie jemandem Bescheid“ ruft der Polizist als ich meinen Pass entgegennehme. Er kümmert sich um den Opa. Als wir nach einer Stunde alle vier wieder in der Marschrutka sitzen, sind die beiden Großeltern sehr nachdenklich. Ich frage Alia, was passiert sei. „Ach, ich bin eine Agentin.“ sagt sie, alle lachen, auch der Fahrer, auch Dirk, nachdem ich übersetzt habe. „Vielleicht wollten sie darauf warten, dass ich bei der Kontrolle gleich wegsterbe.“ ergänzt sie grinsend. „Naja, letztendlich hat es ja doch nicht so lange gedauert.“ erlaube ich mir zu sagen.

Viere können endlich die Grenze von Kasachstan aus sehen

Viere können endlich die Grenze von Kasachstan aus sehen

„Ach früher war das kein Problem hier an der Grenze, es gab keine.“ sagt sie leise und nachdenklich. Zu ihrem Mann sagt sie: „Warte mal ab, in einem Jahr spätestens geht das hier alles wieder leichter.“ Sie ist gebürtige Russin. In den Fünfzigern zog sie nach Kirgistan, ihr Bruder zog in einen Ort in Kasachstan. Bis heute besuchen sie sich oft gegenseitig. Sie ist Biologin, ihr Mann ist Sänger gewesen. Sie erinnert sich, erzählt vom Leben in der Sowjetunion. Wieder Episoden von alten Menschen, die mit der SU nicht nur den Sozialismus, sondern auch die eigene Jugend verbinden. Eine bessere Zeit. Diese Sichtweise ist mir oft auf der Reise begegnet. Dabei hat Alia Humor und kann über sich selbst lachen, sie ist stolz auf die Kinder, die in der Welt verstreut leben. Die Eurasische Union ist für sie ein Hoffnungsschimmer, bestimmt auch weil sie Russin ist, abgesehen davon merke ich ihr an, dass sie recht wütend über die unnötige Tortur an der Grenze ist, besonders der unnötige Stress für ihren schon recht senilen Mann ärgert sie.
Willkommen in Kasachstan Leuchtturmprojekt Landkreis Almaty Willkommen in Almaty

„Ich wünschte, es gäbe auf der ganzen Welt weniger Grenzen.“ sage ich und werde mir gleichzeitig der Realitätsfremde und Bedeutungslosigkeit des Gesagten bewusst. Ich schäme mich fast ein bisschen für den Satz. Als die Beiden in Almaty aussteigen, sagt Alia: „Entschuldigt bitte die Einschränkung Eures Komforts, die wir Euch bereitet haben.“ Dann lacht sie laut auf. Wir lachen mit. Alia und Alep reisen weiter zu ihrem Bruder. Sie hat die Kontrolle, die Pässe und die Wortführung. Er ergänzt manchmal, aber lässt sie meistens reden. Manchmal fragt Alep Alia, ob er eine Zigarette rauchen darf. Als wir vom Lenindenkmal zurück zum Bus kamen, nahm sie ihm die Zigarette nach ein paar Zügen weg. Ich sagte: “Wir können doch noch die Zigarette lang warten?“ „Nein“ antwortete Alia „wir fahren los.“ Alep schloss ohne zu Murren die Bustür hinter sich.

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Russlands Riviera http://www.hntrlnd.de/?p=709 http://www.hntrlnd.de/?p=709#comments Tue, 06 May 2014 05:24:58 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=709 Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Vor 27 Jahren legte mein Opa fest, daß er die Fotos entwickeln würde. Das sei nötig, denn der Filmtransport hätte nicht richtig funktioniert; wenn man die Filme in die Entwicklung geben würde, kämen garantiert keine brauchbaren Bilder heraus. Im Hotel “Tschemschuschina” wurden die Filme unter der Bettdecke aus der Kamera genommen und lichtsicher verpackt. Am Ende gab es kein einziges Foto, denn alle Filme waren doch vor der Entwicklung belichtet.
Heute fragt die digitale Fotografie nicht nach Filmentwicklung. Die Impression versucht sich sofort im digitalen Speicher zu bebildern.

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Das Hotel „Tschemtschuschina“, also „Perle“, gibt es immer noch. Ich bin mir sicher, dass die vier Sterne neben dem Logo schon zu Intourist- Zeiten repräsentativ dazugehörten, aber sie sagen wohl nichts über Qualität aus. Denn wenn man erst mal piepend durch die scheinbar unbewachten Metalldetektoren ins Innere des Hotelkomplexes gelangt ist, erscheint der Raum immer noch in sozialistischer 80er-Jahre- Architektur. Ich versuche, mich zu erinnern, hatte immer vermutetet, die Größe des Hauses hätte mich derart beeindruckt, weil ich damals kleiner Jungpionier war.

"Perle" - Sternstunde des UdSSR-Tourismus

“Perle” – Sternstunde des UdSSR-Tourismus

Aber der Eindruck bleibt, das Haus ist riesig und hässlich, die Ein- und Ausgänge sind immer noch im russischen verkupferten Design, das ich aus den Achtzigern kenne, die typische Farbe jeder damaligen Metrostationstür.
Die Eingangshalle ist in ihren Dimensionen trotzdem stark geschrumpft. Eingemietete Läden bilden eine kleine Stadt innerhalb des riesigen Hotelkomplexes.
Sochi ist bereits Anfang Mai gut besucht, im Sommer werden sich Touristenmassen von den Hotels zum Strand schlängeln, jetzt sind die Promenaden und Parks noch begehbar genug zum Schlendern und Staunen. Die Sonne scheint bereits heiß und heftig.

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Die Promenade hat ihre Weitläufigkeit eingebüßt. Das Kleingewerbe mit seinen Läden hat sie zu einer kilometerlangen Einkaufszeile gemacht. Getränke, Eis, Souvenirs (sehr viele Olympia-Reste), Fußputzerfischsessions, Schießbuden, Flipflops, Fastfood, Massage, bekannte Touristenfallen und neue Geschäftsideen drängen sich aneinander und stellen Überfluss dar. Die Preise sind europäisch minus zehn Prozent.
Mitsamt den Hotel- und Ressortneubauten ist Sochi verwinkelt und kleinteilig geworden. Dabei ragen die Bettenhäuser in den Himmel. Lenin wird an allen Seiten von werbebeschilderten Wolkenkratzern bewacht.

Das Lenindenkmal und seine Bewacher

Sochis Lenindenkmal und seine Bewacher aus Stahlbeton

Zwar werden auch die Parks vom Neubau bedrängt, ihre subtropische Schönheit haben sie dabei nicht verloren. Licht und Schatten laden im Grün der Platanen und Palmen zum Hinsetzen und Gucken, oder Dösen ein, der verspiegelglaste Horizont kann schnell ignoriert werden.
Kann ich durch Sochi schlendern und mich erinnern? Nein, das kann ich nicht. Das ein Vierteljahrhundert alte Bild gibt es nicht mehr. Wie in jeder russischen Boomtown wird das Alte vom Neuen eingebaut und überbaut, bis es verschwunden ist. Wenn ich mich nicht mehr erinnern will, finde ich eine auf Massentourismus spezialisierte Idylle vor, in der sogar ich mir Pauschalurlaub zwischen Spa und Steinstrand vorstellen könnte.

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Mein Opa war Ökonom und kannte die realen Zahlen. Ich vermute, dass er nach Sochi den irrationalen Gedanken hatte, sein Sozialismus hätte doch eine Chance, zu schön war es hier. Kurz nach dem Sochi-Urlaub ist er gestorben. Völlig überarbeitet und zu viel geraucht hat er auch.
Nach dem brachialen Urkapitalismus der Neunziger fängt der neue russisch geplante Kapitalismus an zu funktionieren. Die Ruinoks sind sauberpoliert und voll mit Waren und Lebensmitteln aus allen Teilen des Riesenlandes, das Angebot ist beeindruckend. In Sochi und Adler gibt es keine offensichtliche Armut. Bestimmt staatlich forciert, denn hier soll Urlaub gemacht werden, ohne Sorge. Die ganze Welt kann in den überdimensionierten Bettenstädten um Sochi herum einquartiert werden. An den teilweise künstlichen Steinstränden wird in diesem Sommer über hunderte Kilometer hinweg sonnengebadet. Alles ist da, Mangel wird aus dem Wörterbuch gestrichen. Schöne neue Überflusswelt.

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Ukraine-Stakkato http://www.hntrlnd.de/?p=599 http://www.hntrlnd.de/?p=599#comments Thu, 01 May 2014 06:34:12 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=599 DSC01281Die folgenden Zeilen sind sicher politisch unkorrekt und in jedem Fall unsortiert, aber so fanden sie den Weg in mein Notizbuch während der Zugfahrt nach Sotchi. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit:

Egal, wie die Gegend aussieht, die Kirchendächer glänzend blau und gold. Kaputte Fassaden, Küchen aus dem Katalog. Das Land so weit und so fruchtbar, aber auch so zerstritten. Kinder vor Karriere. Absatzschuhe wie Hochhäuser. Die Alten wollen die Sowjetunion zurück, weil da alles besser war. Ganz unrecht haben sie nicht. Die Jungen wollen Europa, weil da alles besser wird. Ganz unrecht haben auch sie nicht. Nicht jeder Freund Russlands ist ein Separatist, nicht jeder Freund Europas ein Nazi. Es gibt tatsächlich noch Leute, die einfach nur ihr Leben leben. Nationalbewusstsein entwickelt sich rasant, die Legislative kommt nicht mehr mit. Die Exekutive ist hilflos. Die Judikative schleppt sich hinterher. Der Bart Schevschenkos ist das Weinen der Ukraine. Geweint wird oft, mal mit Recht, mal ohne Verstand. Wer war nochmal Lenin, bitte? Regeln braucht der, der Regeln braucht. Wo kein Lichtschalter ist, muss auch keine Lampe hängen. Wie könnte man ein Land teilen, dass sich gar nicht einig ist? Eine Nation, reduziert auf schlechte Nachrichten. Die Krise. Die Russen sind schuld. Nein, die CIA. Oder Europa! Europa? Wir sind Europa! DSC01243Eine Nation der Zweitverwertung. Muss man eigentlich alles importieren? Es gibt doch eigene Firmen. Kein TÜV, keine Autobahn, keine Kindersitze. Bleifarbe an Klettergerüsten, dafür viel Kinderlachen. Es ist erstaunlich viel umsonst. Erstaunlich viel funktioniert einfach so. Schönheit muss nicht immer sein, oft reicht Nutzwert. Dicke Männer, dünne Frauen – Zeichen von Wohlstand. Aber das ganze Gejammer. Kippen schmeißt man nicht auf den Boden, rauchen ist fast überall nicht gern gesehen. Kulturlandschaften, die welche waren, sind oder noch werden sollen. Geringere Wertschätzung von Leben. Freundlichkeit ist in der Öffentlichkeit nicht angebracht, im persönlichen Umgang umso mehr. Leiden und Aushalten. Zu kleine Wohnungen. Kaum Supermärkte. McDonalds ist feines Essen. Überall nur Prepaid-Handys. Rostig funktioniert. Donbass gegen Lwow. Oben gegen unten. Rechts gegen links. Identifikation durch Abgrenzung nach außen und innen. Goldzähne, Gardinenfädenextensions, Augenbrauen in der Mitte der Stirn, Wangenknochen aus Himmel und Hölle. Irgendwo singt irgendwer immer die Hymne. Wie schön sie klingt, so traurig, so stark. Korruption, die alles irgendwie zusammenhält. Offensichtlich. Verbote nicht erfragen, einfach darüber hinwegsetzen. Recht ohne Verstand. Gewaltbereite Idioten auf allen Seiten mit Stöcken in der Hand. Ständige Suche nach Gründen. Billige Zigaretten sind schlechte Zigaretten. Anderes Frauenbild. Adidas, New Balance, spitze Lederschuhe. Musik wie eine Dusche. Blinklichter zeugen von Gemütlichkeit. Fleisch ist billiger als Obst. Vieles selbstgemacht statt neu gekauft. Stolz und Vorurteil. Die Gedanken sind frei. Verwinkelte Effizienz. DSC01287Man kann sich auch mal mit Dingen abfinden. Soviel Misstrauen, unverständlich und auch nicht. Schönes, reiches Land, warum weinst du? Zwei Sprachen im Ohr, zwei Herzen in der Brust. Übermalte Symbolik.

Ich gehe davon aus, dass mir viel davon wieder und wieder auf den nächsten Kilometern begegnen wird, denn dies ist der Anfang.

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Kharkov- Ukraine- Welt: Ein Essay http://www.hntrlnd.de/?p=522 http://www.hntrlnd.de/?p=522#comments Fri, 25 Apr 2014 16:31:03 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=522 Lenin und seine Bewacher

Lenin und seine Bewacher

Das Verblüffende an den russischen Separatisten ist, dass man sie im Stadtbild nicht wahrnimmt. Wären da nicht die zehn Omas und Opas, die mit ihrer Fahne der russischen Armee vor dem Lenindenkmal sitzen. Für wenige Stunden ist ein weiterer Stand aufgebaut, dessen Fahnen das Orange-Schwarz gestrichene mit dem bekannten Rot ergänzen. Rechts die Fahne der UdSSR, links die Fahne der ukrainischen Arbeiterpartei. Neben Hammer und Sichel wird diese um den Namen der Partei ergänzt.
Wir setzen uns etwas abseits auf die Sockeltreppe und trinken zuvor erworbenen Kaffee. Die Sonne wärmt den Rücken.
An dem Stand erklingen die Internationale und andere bekannte Kampflieder. Ein Opa mit Schirmmütze wacht über die Technik aus den Achtzigern. Ein anderer, dem Aussehen nach eine Mischung aus Schachweltmeiter, Leiter einer UdSSR Reiszweckenfabrik und arbeitslosem Professor, dringt gerade als Ein-Mann-Propagandaministerium in die Köpfe zweier wahrscheinlich aus Versehen vorbeigelaufender Jugendlicher ein. Sie hören höflich zu, ihre Gestik vermittelt aber starke Fluchtgedanken.

Bewacher s chauen auf einen großen leeren Platz

Bewacher schauen auf einen großen leeren Platz

Kharkov ist eine Studentenstadt. Man sieht ihr sofort ihre Internationalität an. Selbst der extrovertierteste Australier könnte hier keine besondere Aufmersamkeit erregen. Angst vor Fremdem muss in dieser Stadt zu einer aussterbenden Emotion werden.
Zwar ist die russische Grenze nicht weit entfernt und Russisch ist eindeutig die Hauptumgangssprache, trotzdem unterstelle ich der Stadt eine Immunität gegen Extremismus, die Vielfalt ist zu groß. Der eine oder andere alte Ordenträger wird ergänzen wollen, dass Kharkov erst durch seinen Aufbau in der Sowjetunion die monumentale Schönheit erhalten hat, dem möchte ich nicht wiedersprechen. Die Freiheit, die sich im Stadtleben wiederspiegelt, die Vielfalt an Läden und Gütern, die modernisierten Häuser und Parks sind aber Errungenschaften der letzten 24 Jahre. Nostalgie und Traditionalismus können dieses offensichtliche Bild nicht widerlegen.

Premier Hotels

Premier Hotels

Froh sind wir, dass wir bei unserem dritten Stop in der Ukraine endlich den ersten Lenin gefunden haben. An dieser Stelle zitiere ich eine ukrainischstämmige Freundin: “Schade finde ich nur, dass sie Lenin überall entfernen. Ich mag Deduschka Lenin.”
Hier könnte man vermarktbaren Kult erahnen, Hagen Rether formulierte es mal treffend: “Che Guevara? Ist das nicht der, der den Latte Machiato erfunden hat?”
Der sozialistische Versuch, oder Alptraum, kommt auf die Sichtweise an, ist längt ohne historischen Bezug zur Modemarke geworden, kurzzeitig hip, weil nicht Mainstream, dann bereits Motiv in der Raucherecke des Schulhofs, danach die Absatzschwäche des Modelabels, eine Idee hat sich verkauft, keine Nachfrage mehr.
Wir werden auch in Russland sehen, wie die Suche nach neuen Absatzmärkten mit ihren Großkonzernen und Werbebotschaften das Leben bunter und gierig nach neuestem Klimbim gemacht hat. Den Anstieg der Lebensqualität werden wir wahrnehmen, den harten Kampf des Mittelstandes um sich selbst, das egoistische Kleinbürgerliche als Lebensziel, nicht mehr drangsaliert vom ideologischen Überbau, aber in einem Staat mit einem unterbezahlten Sozialsystem. Putin wird nur kurzzeitig alte Strukturen für seinen Machtausbau nutzen können. Und wenn ihr mich fragt, Europa sollte mal schön die Schnauze halten und aufhören, mit sinnlosen Sanktionen zu drohen. Eine Gesellschaft, für deren Festhalten an der Idee eines Wirtschaftwachstums Näherinnen unter zusammenbrechenden Fabrikhallen begraben werden, deren Müllentsorgung in anderen Regionen die Lebenserwartung derer, die dort versuchen mensch zu sein, auf kaum erwachsen – schon tot senkt, um nur zwei Beispiele ihres Schmarotzertums zu benennen, erstickt bei jeder Menschenrechtspredigt sofort an ihrer Doppelmoral.

Ruhm den Helden des Krieges 1941 - 1945

Ruhm den Helden des Krieges 1941 – 1945

In der Ukraine gibt es nun wieder Kriegsanleihen. Man kann auf verschiedensten Wegen und mit kleinen Beiträgen die Armee unterstützen. Der Militarismus ist auf dem Vormarsch.
Die Werbung zeigt eine zu Tränen gerührte Mutter mit Proviantkörbchen hinter dem Kasernenzaun, die ihrem Sohn beim Exerzieren zuguckt. Millionen wurden bereits mit solchen Kampagnen in den Verteidigungshaushalt gespült. Es wird wohl nicht lange dauern, bis nicht nur die Soldaten wieder einen Sold bekommen, sondern auch schöne neue Leopard-II-Panzer zur Verteidigung der Souveränität eingekauft werden können.
Wir spazieren mit Kosko, einem Bekannten aus Kharkov, durch die Stadt und er berichtet stolz, dass er regelmäßig ein paar Cent mehr für eine sms bezahlt, um die Armee zu unterstützen. “Warum?” frage ich “Glaubst Du wirklich, Eure Armee hätte eine Chance gegen die zweitgrößte Militärmacht der Welt?” “Nein” “Na dann feiert doch Eure erneuerte Freiheit und sagt den Russen, na los, schießt uns doch zusammen, wir haben sowieso keine Chance.” “Du verstehst das nicht.” sagt Kosko und da hat er recht, ich verstehe es nicht. Ich habe ja auch keine Ahnung vom Alltag in einem System in welchem die Gewaltentrennung kurz vor dem Zusammenbrechen ist, weil sie nicht mehr finanziert werden kann.

Kharkover Stadtleben

Kharkover Stadtleben

Wir spazieren also durch Kharkov und sind begeistert von der Stadt. Innerhalb von 300 Jahren wurde an ein paar kleinen Flüsschen eine Zweimillionenstadt in die Landschaft gemeißelt. Wenn man hinter den sowjetischen Prunkbauten und Plätzen in eine Seitenstraße einbiegt, entdeckt man urbanes Leben in Vierteln, die von Gründerbauten und Bauhausarchitektur geprägt sind. Modern ist die Stadt und sauber. Der Blick schweift schnell ab zu den Passantinnen, die vielleicht gerade auf dem Weg zur Uni sind, oder zum nächsten Taschengeschäft. Das Lenindenkmal wird weiterhin von zehn Rentnern bewacht. In Slaviansk wurden die ersten prorussischen Besatzer, also Terroristen, von Spezialeinheiten erschossen. Ein proukrainischer Checkpoint in Odessa explodiert. Irgendwo fliegt Jemandem der Hut davon. Angst macht Märkte stabiler und festigt das Oligarchentum von weltweit agierenden, undurchsichtigen Konzernstrukturen, deren wichtigstes Lebensziel eine zufriedene Aktionärsversammlung ist. Wenn dieses Ziel nicht erreicht werden kann, muss man erstmal wieder richtig Schotter machen. Das  klappt am Besten mit der Etablierung eines Feindes und der sinnlosen Produktion von Wehrhaftigkeit. Es gibt keine neue Welt in einem alten Wertesystem.

Kharkov- Ukraine- Welt- Eine Richtigstellung

Nacht in Kharkov

Nacht in Kharkov

Eins war klar – wir würden in dieser Stadt und im Bekanntenkreis keine pro-russische Meinung zu hören bekommen. Eins war mir nicht klar – selbst der größte Peacer unter ihnen würde zur Waffe greifen, wenn es Krieg gäbe. Und er würde auf russische Soldaten schießen, selbst wenn er keine Chance hat.
Aber fangen wir am Ende an: Kosko hat uns nach einem langen Abend ein Taxi bereitgestellt, das uns nach Hause bringt. Ich frage den Taxifahrer auf Russisch, wie der Job so läuft, er sagt, er tut das nur nebenbei, eigentlich bemalt er Dinge, Motorräder und solche Sachen, er rutscht ins Englische. “Paintbrush?” frage ich “Nein, bemalen” sagt er, ich frage nicht weiter nach. “Aber eins ist klar,” redet er weiter, als wenn er die Frage geahnt hätte “ich bin der Erste, der seine Waffe benutzt, wenn sie weiter unser Land angreifen. Sie haben sich einfach die Krim genommen, jeden Sommer bin ich dort gewesen, mein Land, und ich konnte nichts machen.” “Warum solltest Du auch,” frage ich ” Du hättest doch keine Chance?” “Aber ich würde sie erschießen, solange ich kann, sie haben kein Recht, mir MEIN Land wegzunehmen. Ich fahre Taxi, um mir eine Automatische kaufen zu können!”
Er redet nur russisch, wenn er im Englischen nicht weiterkommt, mitten in Kharkov.
“Gibt es denn keine anderen Möglichkeiten” kontere ich, “das ist doch Selbstmord?” “Ist mir egal, mein Land ist kein Bruder der Russen.”
Ich wäre erschüttert, wenn diese Stimmung nicht den ganzen Abend begleitet hätte. Als er uns absetzt, bedanke ich mich für das Gespräch, boxe ihn leicht an die Schulter dabei, er reicht mir die Hand und drückt sie fest.

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