Kharkov – Sochi

Zug und Nacht und Rostov

Zug und Nacht und Rostov

Von Kharkov nach Rostov am Don, platzkartnui Wagon. Die Tickets kosten für die ganze Strecke bis Sochi nicht um die fünfzehn, sondern siebzig Euro pro Person. Die Abteile sind eng, keine Türen zum Abschließen. Den Raum, auf dem im Coupe vier Fahrgäste liegen, teilen sich hier sechs Leute. Noch weniger Privatsphäre und diesmal keine schöne Ukrainerin in Sichtweite. Der Wagon auf der Zugstrecke Minsk – Sochi ist sauber, die Mitfahrenden sind verschlafen, die Liegen bereits runtergeklappt. Der Ein- und Ausstieg, in welchem man raucht, ist wieder mit Aschenbechern ausgestattet. Ein Schild weist darauf hin, dass auf der Durchfahrt durch die Ukraine nicht geraucht werden darf: Altbekannte Prozedur, die Durchgangstür zum nächsten Wagon öffnen und zwischen den Wagons auf die Schienen aschen.

Ukraine und Landschaft und Gleise

Ukraine und Landschaft und Gleise

Fünf Tage vor Abfahrt waren wir auf dem Kharkover Bahnhof, um die Tickets zu kaufen. Wir hatten nicht an Wuichodnuie gedacht, für welche die freien Tage um den ersten Mai herum gerne genutzt werden, außerdem hatten wir uns blenden lassen von Statistiken, welche besagten, dass der Ticketkauf Richtung Krim und Russland um dreißig Prozent zurückgegangen sei. Auf dem Weg zum Fahrkartenschalter wurde ich von jemanden in Zivil angehalten, er zeigte ein Dokument, welches ihn wahrscheinlich als Polizisten auswies, ein uniformierter Polizist stand neben ihm. Er fragte mich, was ich hier wolle, wo ich hin will und woher ich komme. Also zeigte ich meinen Pass und sagte was von Deutschland und Urlaub und Sochi, wie immer wurden aufmerksam und interessiert die Visa durchgeblättert, ich bekam den Pass ohne weitere Nachfrage zurück. Diese Begebenheit vermittelte mir einen weiteren Eindruck von der Nervosität der ukrainischen Behörden. Am Fahrkartenschalter wurde uns schnell mitgeteilt, dass es keine Tickets mehr gäbe, weder für den Zug Minsk – Sochi, noch für den Zug Moskau – Sochi. Wir waren erschüttert. “Na, da muss es doch eine Möglichkeit geben”, murmelte die Angestellte am Schalter für internationale Gäste in fließendem Englisch und tippte lange und konzentriert auf der Tastatur. “Das ist möglich” sagte sie dann, während sich bereits Schweißperlen auf unserer Stirn bildeten. “Ihr bekommt Platzkarten für den Zug Minsk – Sochi, fahrt bis Rostov, zwei Stunden später steigt ihr in den Zug Moskau – Sochi, wieder mit Platzkarten.” “Perfekt,” rief ich “machen wir so.” In meiner Euphorie fragte ich mal wieder, ob ich ein Foto von ihr machen dürfe. Sie freute sich: “Gerne, doch hier dürfen keine Fotos gemacht werden.” “Das sieht doch keiner.” sagte ich. “Doch die Kameras.” grinste sie, ihr Zeigefinger hob sich von der Tastatur ein wenig zur Seite hin.

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Jetzt sitzen wir also im Minsk-Sochi Zug und bekommen Waren feilgeboten, laut werden Vorzüge und günstige Preise vorgetragen, Schlafende sind egal. Folgende Liste beschreibt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Sortiment: Blumenvasen, mit Blumenmuster, oder ohne, vergoldet, oder nicht, Kinderbuntstiftsets, Walnüsse, Milch, andere Nüsse, einen Meter hohe Vasen (das Angebot entspricht wirklich dem eines gut aufgeräumten Vasenladens), Käse, karierte Taschen voll Zeug, Brot, Brennholz, Bier, Besteck und das beste Gebäck überhaupt, wenn man der Verkäuferin glauben mag.
Die ukrainische Landschaft fährt am Fenster vorbei, die Bäume blühen, mehr Birkenwäldchen, also fahren wir in die richtige Richtung. Nach vier Stunden Fahrt werde ich bereits das zweite Mal von Polizisten kontrolliert. Sie entdecken mich, als ich durch das Türfenster der Raucherecke Fotos von vorbeifahrender Natur mache. Wir fahren zwar durchs Donezk-Gebiet, aber von einem fahrenden Zug aus sind keine Besonderheiten zu entdecken. Eine Straßensperre aus alten Reifen bekomme ich nicht rechtzeitig in den Fokus.

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

“Gehörst Du zu dem Wagon?” fragt mich der eine Polizist “Ja”. “Hast Du Drogen dabei?” fragt der zweite. “Nein, keine Drogen.” “Wo kommst Du her?” “Aus Deutschland.” “Alleine unterwegs?” “Mit einem Freund.” “Kommt ihr aus Weißrussland?” “Nein, aus der Ukraine.” “Aha, was habt ihr hier gemacht?” “Urlaub?” “Zeige Deine Dokumente!”. Also gehen wir zu den Liegen. “Hast Du ein Telefon dabei?” “Ja, aber das Akku ist alle.” “Zeige es trotzdem!” Er schaltet es ein und klickt wild durch die Apps, findet Fotos, dann geht das Handy wieder aus, Dirks Handy wird auch durchgeklickt. Ich habe die ganze Zeit den Fotoapparat in der Hand, dessen Aufnahmen wohl relevanter wären, aber dieser interessiert die beiden Polizisten scheinbar nicht mehr, sie haben wohl nicht genug Indizien für irgendwas gefunden, stattdessen werden willkürlich noch ein paar andere Passagiere kontrolliert.
Die Grenzkontrollen verlaufen dann auf beiden Seiten schnell. Interessant ist vielleicht, dass die ukrainischen Zöllner bereits fünfzig Kilometer vor der Grenze den Zug kontrollieren. Die Russen blättern direkt an der Grenze durch unsere Visa.
Rostov am Don – schicker Bahnübergang, viele Sitze in großen Wartesälen, vereinzelt schlafen Wartende.
Der nächste Zug kommt auf die Minute pünktlich. Wieder ein platzkartnui Wagon, diesmal neuester russischer Hightech. Ein kleines Schildchen informiert darüber, dass wir in einem Glückswagon mitfahren, ein Passagier hat auf Platz soundso gesessen und 500000 Rubel gewonnen, weshalb es sich durchaus lohnt, an der Bahnlotterie teilzunehmen. Wir finden nach längerer Suche unsere Liegen. Alle schlafen. Am Morgen zeigt sich das Manko der eng besetzten Nachtzüge. Die morgendliche Routine ermöglicht es nicht, sich nicht ständig gegenseitig auf die Füße zu treten. Dicht an dicht drängen sich Passagiere durch den engen Gang aneinander vorbei.
Es gelingt mir immer noch nicht, dem Gespräch zwischen Russen sinngemäß zu folgen, zu schnell, zu viel neu, die Sprache hat sich verändert. Eine schöne Russin zieht kurz vor Sochi eine Jeansjacke an. Steht ihr nicht. Tolle dunkelbraune Augen.

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Ich frage die Deschurnaja, ob sie uns bis Adler weiterfahren lässt, obwohl wir doch nur Tickets bis Sochi gekauft haben. Sie grinst kurz und macht dann wieder ein ernstes Gesicht “Das entscheide ich in Sochi, ich sage dann Bescheid” Auf weitere fragende Blicke meinerseits antwortet sie bis Sochi mit besonders ausdrucksstarker Ignoranz. Am Bahnhof schaue ich von der Wagontür aus kurz auf den Bahnsteig und zu ihr. Ihr Handwink vermittelt, dass die Fahrt eine Station weiter klar geht. Der Zug kommt auf die Minute pünktlich an. Gerne lässt sich unsere Deschurnaja vor ihrem Wagon fotografieren. Adler, Olympiapark, Palmen, Schwarzes Meer.

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